Kolumne Darum Jammern die Schweizer so gerne

Von Marianne Siegenthaler

1.8.2019

Jammern bringt Aufmerksamkeit, Trost und im besten Fall Zuwendung. Und es verbindet. (Symbolbild)
Jammern bringt Aufmerksamkeit, Trost und im besten Fall Zuwendung. Und es verbindet. (Symbolbild)
Bild: iStock

Klagen, meckern, nörgeln – Schweizerinnen und Schweizer sind Weltmeister, wenn es ums Jammern geht. Die «Bluewin»-Kolumnistin ist hier keine Ausnahme.

Kürzlich hatte ich ein wichtiges Meeting in der Stadt Zürich. Natürlich am bisher allerheissesten Tag dieses Sommers. Und klar, der Zug fiel aus, sodass ich mit dem Auto stadtwärts düste.

Wobei von Düsen keine Rede sein konnte: Die Baustellendichte ist hier derart hoch, dass man ständig vor roten Lichtsignalen steht. Und natürlich dauerte es ewig, bis ich einen freien Parkplatz fand. Münz für die Parkuhr hatte ich auch grad nicht. Per Handy bezahlen? Der Akku war leider schon wieder leer.

Dafür hatte ich bei meiner Rückkehr eine Parkbusse unterm Scheibenwischer. Und als ich diese in meine Tasche packen wollte, merkte ich, dass ich die Tasche mit der Trinkwasserflasche geflutet hatte. Der blöde Deckel war nicht ganz dicht.

«First World Problems»

Ich hatte also allen Grund zum Jammern. Über das Wetter. Die SBB. Die Baustellen. Die Politessen. Die ruinierte Tasche. Und so musste sich mein Mann abends erst mal anhören, was mir die ungerechte Welt an jenem Tag so alles angetan hatte.

Irgendwann unterbrach er mein Gejammer und fragte, wie denn das Meeting gelaufen sei. «Ähm – gut.» Das Wichtigste hatte ich tatsächlich vor lauter Meckern und Schimpfen vergessen.

Dabei konnte ich mich doch glücklich schätzen, dass da alles gut gelaufen war und ich für die nächste Zeit weiterhin genug verdienen werde, um in einem schönen Haus mit Garten zu wohnen. Wenn auch leider ohne Seesicht …

Luxusprobleme nannte man das früher, heute spricht man von «First World Problems» oder kurz FWP. Sie sind im Vergleich zu den Problemen in der Dritten Welt schlicht lächerlich. Da wäre man schon dankbar für sauberes Trinkwasser, genügend Nahrungsmittel und eine einigermassen funktionierende medizinische Versorgung.

Einem geht es immer schlechter

Trotzdem: Es ist nun einmal so, dass sich immer jemand findet, dem es noch schlechter geht. Soll man sich deshalb das Jammern gänzlich verkneifen? Ich finde nicht.

Für mich ist es nun mal wichtig, dass ich zum Beispiel pünktlich an einem geschäftlichen Meeting eintreffe. Und wenn das nicht klappt, weil die SBB nicht in der Lage ist, ihre Züge rechtzeitig auf die Schiene zu schicken beziehungsweise ein Teil unseres Strassennetzes zur Dauerbaustelle umfunktioniert ist, dann ärgert und stresst mich das. Und das will ich auch kundtun.

Es hilft wenig, wenn ich mir vor Augen halte, dass es anderswo gar keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Oder asphaltierte Strassen. Meine eigenen Gefühle und Probleme liegen mir eben am nächsten – und das geht sicher nicht nur mir so.

Jammern ist kontraproduktiv

Natürlich ist es mir durchaus bewusst, dass viele Menschen auf der Welt mit existenziellen Problemen kämpfen. Nichts zu essen. Nichts zu trinken. Kein Dach über dem Kopf. Dann packt mich jeweils auch das schlechte Gewissen.

Ganz lassen kann ich das Jammern trotzdem nicht, denn es tut ab und zu eben richtig gut. Es bringt Aufmerksamkeit, Trost und im besten Fall Zuwendung. Und es verbindet. Deshalb funktionieren Stammtische. Oder Kaffeekränzchen. Oder politische Parteien.

Aber auf die Dauer ist Jammern kontraproduktiv. Wer permanent jammert, strapaziert die Geduld seiner Mitmenschen. Und schädigt das Gehirn, ist gestresst, wird vergesslich. Das haben US-amerikanische Wissenschaftler herausgefunden.

Kommt dazu: Wer ständig in den Jammer-Modus verfällt, kann in eine negative Gedankenspirale verfallen, die ihn oder sie nach unten zieht. Was kann man dagegen tun?

Der Trick mit dem Armband

Der US-amerikanische Pfarrer Will Bowen hat sich dazu ein interessantes Projekt ausgedacht Er verteilte seiner Gemeinde ein violettes Armband. Jedesmal, wenn man lautstark über etwas jammert, lästert oder meckert, muss man das Armand ans andere Handgelenk wechseln.

So wird einem erst bewusst, wie häufig man am Jammern ist. Und dass es auch ohne geht. Also ich habe mir jetzt mal ein violettes Armband gekauft. Wobei, ein Hellblaues hätte mir viel besser gefallen …

Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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