Der Paartherapeut wird 80Klaus Heer: «Ich stelle mir vor, so leichter sterben zu können»
Von Bruno Bötschi
8.5.2023
Die Lebenserwartung steigt und steigt. Paartherapeut Klaus Heer spricht im Gespräch mit blue News über das Älterwerden. Er sagt, was er nicht mehr will und worauf er auch mit bald 80 nicht verzichten möchte.
Von Bruno Bötschi
08.05.2023, 06:36
08.05.2023, 15:50
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Klaus Heer spricht über das Älterwerden.
Der Paartherapeut erklärt im Interview, welche positiven Dinge das Älterwerden mit sich bringt.
Und der 79-Jährige erklärt, warum er seit zwei Jahrzehnten Exit-Mitglied ist.
Die Frage habe ich erwarten müssen. Nur Greise werden das gefragt, wissen Sie. Keine Ahnung, warum.
Und wie geht es Ihnen?
Gut.
Es wird immer wieder behauptet, Alter sei eine Frage der Haltung.
Das mag sein.
Menschen ab 60 sagen oft von sich, langsam alt zu werden. Aber erst mit 80 stellt sich wirklich das Gefühl ein, alt zu sein. Wie ist das bei Ihnen?
Gefühlsmässig hinke ich meinem tatsächlichen Alter je länger, je deutlicher hinterher. Seit fast fünfzig Jahren bin ich mit Begeisterung berufstätig und werde es bleiben, bis ich gar nicht mehr kann. Will heissen, solange ich bei Kräften bin und alle meine Tassen im Schrank habe.
Zur Person: Klaus Heer
Klaus Heer, 79, bildete sich nach seinem Psychologiestudium in Hamburg und Bern in Psycho- und Paartherapie weiter. In den 47 Jahren, in denen er mit Paaren arbeitet, hat er sich den Ruf einer Kapazität in Fragen Liebe, Partnerschaft und Sexualität erworben. Er schrieb Sachbücher wie die Bestseller «Ehe, Sex & Liebesmüh’» und «Paarlauf. Wie einsam ist die Zweisamkeit?». Heer lebt und arbeitet in Bern.
Der Seitenhieb sei erlaubt: Warum hinken Sie, obwohl Sie sich viel jünger fühlen?
Ich wollte sagen: Zu meiner eigenen Überraschung fühle ich mich je länger, je weniger pensionsschlapp.
Was halten Sie vom Rentenalter 65?
Das wäre gar nichts für mich gewesen, mit 65 gleichzeitig mit all den anderen zwangsweise das Besteck abgeben – nein! Fremdbestimmung mag ich nicht, auch nicht am prall gefüllten Futtertrog.
Ein Bonmot sagt: Wer rastet, der rostet.
Danke fürs Stichwort «Rost»: Bewegung macht mir Freude. Nicht Sport, einfach nur unterwegs sein. Zu Fuss. Immer in den beiden Wäldern in meiner unmittelbaren Nähe. Jeden Tag zwischen zehn- und zwanzigtausend Schritte. Viel allein, oft mit meiner Frau. Das entrostet mich. Und uns.
Viele Menschen kümmern sich vor allem um den Körper, um jung zu bleiben.
Wissenschaftlich ist nachgewiesen, dass es in erster Linie lebendige Beziehungen sind, die den Geist beweglich halten. Lebendige Beziehungen sind aber nicht etwa erkennbar an ihrer Harmonie. Sie sind eher wach, offen für Unterschiede, geübt im Verhandeln, unerschrocken und empathisch. Derlei Qualitäten finden sich in Zweierbeziehungen und im regelmässigen Kontakt mit Kindern. Enkelkindern zum Beispiel.
Und wann haben Sie zuletzt gesagt: «Ich glaube, jetzt werde ich alt.»
Als letzten Sonntagabend ein ungefähr 20-jähriger Mann im vollen Zugsabteil aufgestanden ist und mir seinen Sitzplatz angeboten hat. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ups, jetzt bin ich alt.
Welche positiven Dinge bringt das Alter sonst noch mit?
Es ist, als flanierte ich mit einem unanständigen Lächeln durch ein gigantisches Einkaufszentrum und stellte andauernd fest: Das brauche ich nicht und dies hier auch nicht und das da – pah! – sowieso nicht! Wollen Sie Beispiele von solchen neuen Überflüssigkeiten hören?
Gern.
Also, ich brauche wirklich keine Ferien und Reisen mehr, kein Auto, auch kein E-Bike, keine Traumwohnung, keine neuen Apparate – nicht einmal zum Fotografieren oder Filmen, das Handy genügt. Geburtstagsfeiern oder andere Festivitäten mit mehr als drei Gästen sind mir schon lange ein Gräuel, also ohne mich bitte. Kino, Konzerte und Theater vermisse ich auch nicht. Ebenso wenig wie Gesundheitschecks aller Art, ob schulmedizinische oder alternative. Noch Fragen?
Ja – auf was wollen Sie mit bald 80 auf gar keinen Fall verzichten?
Jetzt, wo ich genauer drüber nachdenke, stelle ich mit Schrecken fest: Die Liste meiner Unentbehrlichkeiten ist wohl länger, als ich dachte. Ich fange an mit dem Unverzichtbarsten: meine Frau. Meine Frau, ihr grosser Garten, unser Wald, unsere Zweierbewegung, unsere einzigartig angeschmiegten Hände und die Welten, die uns trennen.
Was steht sonst noch auf Ihrer Bucket List?
Sicher nicht die Cheops Pyramide oder der Tesla Model X. Eher Werte wie enge Beziehungen, etwa meine alten dicken Freundschaften und meine starke Verbindung zu zweien meiner elf Geschwister, die in Bern leben. Sehr hoch schätze ich die wenigen Klientenpaare, die ich noch immer begleite. Wichtig ist mir auch mein iPhone 13 Pro Max, das mir Dienste leistet, auf die ich wohl nie mehr werde verzichten wollen. Und ich geniesse in vollen Zügen mein weckerfreies Leben ohne Stress und mit viel frei verfügbarer Zeit.
Was gewinnt der Mensch, wenn er alt wird? Gelassenheit vielleicht?
Meine persönliche Chance ist: jeden Tag Ballast abwerfen. Ich stelle mir vor, so leichter sterben zu können.
So grundsätzlich: Ist das Thema Alter in unserer Gesellschaft zu negativ besetzt?
Weiss ich nicht. Bei mir selbst brummt bei dem Thema ständig Angst mit. Leise Angst ist der treue Generalbass im Untergrund meines zu Ende gehenden Lebens.
Das klingt jetzt sehr theoretisch.
Theoretisch? Das ist nicht Theorie, sondern Musik in Moll! Gelebte Grundstimmung. Ich bin eben ein ängstlicher Mensch.
Als junger Mensch lebt man mit Tempo, im Alter wird alles langsamer: Wie drosselt man das Tempo, ohne aus der Kurve zu fallen?
Machen Sie sich keine Sorgen: Der Düsenantrieb wird von selbst schwächer. Drosseln ist überflüssig.
Der deutsche Sänger Konstantin Wecker sagte in einem Interview: «Ein grosser Vorteil des Alters ist, man denkt nicht dauernd an das, was morgen passiert, man ist mehr in der Gegenwart als in der Jugend.»
Stimmt präzis. Das Leben findet ja ausschliesslich auf dem schlanken Grat zwischen gestern und morgen statt. Nur das Jetzt ist prall und frisch. Finde ich als kleiner Hobby-Buddhist jeden Tag bestätigt.
Denken Sie mit 79 öfter ans Sterben als mit 50?
Ja, klar. Schliesslich bin ich dabei, mein statistisches Ablaufdatum zu erreichen. Es gibt für mich nichts Aktuelleres als Sterben.
Wie alt wollen Sie werden?
Über eine solche Deadline entscheide ich frühestens, wenn ich todkrank bin. Jetzt bewegen mich andere Themen.