Nachruf auf Joan Didion«Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben»
Von Lukas Meyer
24.12.2021
Kulturikone und Pionierin des New Journalism: Joan Didion sezierte in ihren Reportagen, Romanen und Essays die Welt. Nun ist sie im Alter von 87 Jahren in New York gestorben.
Von Lukas Meyer
24.12.2021, 13:56
25.12.2021, 10:14
Lukas Meyer
«Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben»: Joan Didion lebte nach ihrer berühmten Maxime. Von ihren Romanen und Drehbüchern bis zu ihren Reportagen und Essays – Didion schrieb die Geschichten nieder, hinterfragte sie aber auch immer wieder und untersuchte ihre Voraussetzungen.
Geboren 1934 in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, fing Didion unter dem Einfluss von Ernest Hemingway und Joseph Conrad früh an, zu schreiben.
Nach dem Studium stieg sie als Redaktorin bei der Zeitschrift «Vogue» in den Journalismus ein und zog nach New York.
Als 1963 ihr erster Roman «Run River» erschien, ging sie mit ihrem Mann John Gregory Dunne zurück an die Westküste. An die Partys des glamourösen Paars kam die Crème de la crème aus Film und Kultur. Gemeinsam verfassten Didion und Dunne Drehbücher, etwa zu «The Panic in Needle Park» mit Al Pacino, zum 1976-Remake von «A Star Is Born» oder zu «Play It as It Lays», einer Verfilmung von Didions zweitem Roman.
Bekannt wurde Didion vor allem mit ihren Reportagen aus dem Kalifornien der 60er und 70er. Diese erschienen zuerst in Zeitschriften wie «Life» und später in den berühmten Sammlungen «Slouching Towards Bethlehem» (1968) und «The White Album» (1979).
Sie schrieb über Hippies in San Francisco und Milliardäre in Los Angeles, über Hollywood-Legende John Wayne und Massenmörder Charles Manson, über die Frauenbewegung und den amerikanischen Traum – und dabei immer auch über sich selbst. Schonungslos sezierte sie die Gesellschaft und ihre Stimmungen.
Pures Gold für die Reporterin
Didion etablierte sich als führende Vertreterin des «New Journalism». Dieser Stil kam in den 60er-Jahren auf und war geprägt von einer persönlichen Sichtweise der erzählenden Journalist*innen und einem literarischen Stil. Das passte zu Didion, die keine Hemmungen hatte, eine Analyse ihres Psychiaters in einen Text reinzunehmen oder Packlisten für eine Reise.
In einem Interview erzählt Didion, wie sie in einer Hippie-Kommune auf Reportage war. Dabei sah sie ein fünfjähriges Mädchen auf einem LSD-Trip, um das sich niemand kümmerte, ein Bild des Elends. «It was pure gold», kommentiert Didion das Erlebnis – bester Stoff für die Reporterin.
Später wandte sie sich vermehrt der Politik zu. In «Political Fictions» (2001) sind Essays über die Jahre der Regierungen von Ronald Reagan, George Bush und Bill Clinton versammelt, in denen Didion hinter die Kulissen schaut. Sie deckt auf, wie in der Hauptstadt Washington, D.C., die Politik für den Rest des Landes inszeniert wird, und hinterfragt die Geschichten, die dabei erzählt werden.
Didions Neffe Gregory Dunne veröffentlichte 2017 den Dokumentarfilm «The Center Will Not Hold» auf Netflix über die Autorin.
Youtube/Netflix
Ihr späteres Werk ist geprägt von zwei Schicksalsschlägen: 2003 starb ihr Mann John Gregory Dunne – er hatte einen Schlaganfall, als sich das Paar am Silvesterabend zum Essen hinsetzte. Zwei Jahre später starb auch ihre Adoptivtochter Quintana Roo.
Die Trauer verarbeitete sie in den Büchern «The Year of Magical Thinking» (2005) und «Blue Nights» (2011). «Es gab nichts anderes zu tun. Ich musste meinen Weg rausschreiben», sagte Didion.
Model für Céline
In den letzten Jahren schrieb sie zwar nicht mehr, aber ihre Essay-Sammlungen wurden neu herausgegeben und vermehrt auf Deutsch übersetzt.
Für Aufsehen sorgte sie, als sie 2015 für eine Kampagne des Modelabels Céline posierte, in Szene gesetzt von Starfotograf Jürgen Teller. 2017 veröffentlichte Netflix einen Dokumentarfilm über Didion von ihrem Neffen Gregory Dunne.
Nun hat Joan Didion ihre eigene Geschichte abgeschlossen. Am 23. Dezember ist sie in New York im Alter von 87 Jahren gestorben.