Emotionale Achterbahn «Soziale Unterstützung ist wie ein Fangtuch»

Von Sulamith Ehrensperger

23.12.2020

Für viele Menschen bedeutet physische Distanz auch viel weniger soziale Kontakte. Doch gerade in Krisenzeiten ist soziale Unterstützung essenziell, da sie «wie ein Fangtuch» wirken kann.
Für viele Menschen bedeutet physische Distanz auch viel weniger soziale Kontakte. Doch gerade in Krisenzeiten ist soziale Unterstützung essenziell, da sie «wie ein Fangtuch» wirken kann.
Bild: Getty Images

Die Corona-Krise nimmt viele Menschen seelisch mit. Vor allem zum Jahresende hin, das emotional schwierig sein kann. Was tun, wenn es drunter und drüber geht mit den Gefühlen – das Gespräch mit Ronia Schiftan von Dureschnufe.ch.

Frau Schiftan, welches sind die häufigsten Sorgen, die Sie zurzeit zu hören bekommen?

Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf solche Krisensituationen. Ich beobachte, dass für viele das Ermüden das grösste Problem ist. Man mag nicht mehr, vermisst seine Freunde und wünscht sich die Normalität zurück, die im Moment nicht möglich ist.

Sind es noch dieselben Sorgen, die viele während des Lockdowns im Frühjahr geplagt haben?

Viele Leute haben immer noch Angst, machen sich Sorgen, finanziell oder wegen Konflikten im familiären Umfeld. Es ist halt schon so: Je mehr wir zu Hause sind, desto mehr sind Konflikte programmiert. Was wir auch beobachten ist, dass viele mit den Massnahmen überfordert sind oder sich ausgeliefert fühlen – beispielsweise, wenn diese am Arbeitsplatz nicht sachgemäss umgesetzt werden. Das macht vielen Angst.

Das Jahresende erleben viele als emotionale Herausforderung. Was macht die kollektive Erschöpfung und ein Fest der Liebe innerhalb von Corona-Schranken mit den Menschen?

Rein emotional ist das letzte Jahresviertel für viele eine Herausforderung. Es gibt Menschen, die sehr einsam sind. Diese Einsamkeit kann sich zu dieser Zeit verschärfen, wenn man beispielsweise nicht mit der Familie feiern kann. Es ist klar, dass wenn die Belastungen von aussen zunehmen – beispielsweise wenn finanzielle Sorgen da sind –, das auch die Ängste verstärkt.

Zur Person: Ronia Schiftan
Ronia Schiftan Psychologin Bern
zVg

Ronia Schiftan ist MSc Psychologin in Medien- und Ernährungspsychologie. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind gesundheits- und medienpsychologische Themen. Während der Covid-19-Krise engagiert sich Schiftan für Dureschnufe.ch, eine Plattform für psychische Gesundheit rund um das Coronavirus.

Was viele beunruhigt, ist, dass sie nicht wissen, wie sie mit der Weihnachtssituation umgehen sollen.

Das ist tatsächlich keine einfache Situation, weil da unterschiedliche Haltungen aufeinandertreffen. Was für den einen easy ist, ist für den anderen nicht okay. Verschiedene Haltungen können Konflikte beziehungsweise Gefühle von Angst oder Wut noch verstärken. Das verunsichert sehr. Diese Verunsicherung ist aber absolut normal, schliesslich hatten wir nie zuvor eine solche Situation.

Auf der anderen Seite kenne ich Menschen, die froh sind, dem ewig gleichen Weihnachtstrott mal entfliehen zu können.

Ich glaube, wir sind im Moment alle allergisch gegenüber Aussagen wie «Jede Krise ist eine Chance». Dennoch finde ich es wichtig, dass wir nicht nur das Negative sehen. Es gibt tatsächlich Menschen, die positiv reagieren können. Es beispielsweise angenehm finden, dass sie mehr Ruhe haben oder froh sind, dass gewisse Normen infrage gestellt werden.

Wenn es mal schwierig ist, sage ich mir, wie wahrscheinlich viele: Ich habe es auch im Frühling geschafft, also schaffe ich es auch jetzt wieder. Allerdings ist dieses Mal die Ausgangslage anders. Wann braucht es Hilfe, um aus dem Loch zu kommen?

Selbstwirksamkeit ist eines der wichtigsten Rezepte für unsere psychische Gesundheit. Es ist die Überzeugung, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Wann aber sollte man sich Hilfe holen? Ich finde immer, sobald man das Gefühl hat, mit der Situation nicht zurechtzukommen. Wir haben in unserer Gesellschaft eher die Haltung, dass wir erst Hilfe holen, wenn wir schon am Boden liegen. Das ist Chabis.

Also rechtzeitig Hilfe holen – aber wo?

Schon nur ein Gespräch mit Freunden oder der Familie, der Partnerin oder dem Partner kann einem helfen, darüber zu reden. Das ist schon die erste wichtigste Massnahme. Wer sich nicht im Familien- oder Freundeskreis austauschen mag, kann sich bei fachlichen Stellen Hilfe holen. Angebote wie die Dargebotene Hand haben rund um die Uhr, anonym und kostenlos ein offenes Ohr. Inzwischen gibt es auch viele Online-Konsultationen bei Therapeutinnen und Therapeuten. Wir müssen nichts allein schaffen, das ist Quatsch. Wir sind in einer Situation, die für alle herausfordernd ist.

Gespräche allein lösen keine Probleme. Wie gelingt es doch?

Darüber reden relativiert oft, andere Ansichten können einem helfen. Manchmal wirkt etwas viel grösser, wenn man versucht allein damit zurechtzukommen. Wer darüber redet, erfährt vielleicht eine andere Perspektive, eine andere Einschätzung. Manchmal hilft es einfach auch, seine Sorgen zu teilen und Gefühle in Worte zu fassen, um sie konkreter zu fassen.

Die Seite Dureschnufe.ch bietet in vielen Bereichen erste Hilfe, wie auch die an die ausserordentliche Lage angepasste Version der «10 Schritte für psychische Gesundheit». Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, um in Corona-Zeiten psychisch gesund zu bleiben?

Soziale Unterstützung und darüber reden zählen zu den wichtigsten Faktoren, damit das gelingen kann. Denn soziale Unterstützung ist wie ein Fangtuch, das uns auffängt, wenn wir zu fallen drohen. Die «10 Schritte für psychische Gesundheit» kann ich sehr empfehlen. Schritt für Schrittchen kann man sie durchgehen: Sie zeigen, was man für mehr psychisches Wohlbefinden tun kann, was einem guttun würde und was man schon ganz gut dafür tut.

Wie lässt sich eine Strategie im Umgang mit den teilweise auch diffusen Gefühlen und Ängsten finden?

Im Moment sind wir dauernd mit dem Thema konfrontiert und erleben auch rundum ganz viel Berichterstattung zu Corona. Man darf nicht unterschätzen, dass dies viel Angst und Emotionen auslösen kann. Ich habe das Bild eines Dampfkochtopfes vor Augen, der immer stärker vor sich hinkocht. Bevor die Emotionen überhitzen, müssen wir irgendetwas mit diesen Emotionen machen. Sie machen uns traurig, ängstlich, wütend. Man kann sich beispielsweise eine Strategie zurechtlegen, beispielsweise indem wir nicht den ganzen Tag Nachrichten lesen, weil das ständig Emotionen schürt. Besser ist, sich bewusst ein Zeitfenster für Nachrichten einplanen, und sich danach mit der Familie oder einer Freundin darüber austauschen, was einen beschäftigt, das nimmt dann auch wieder den Druck raus.

Was, wenn sich die Gedanken stets im Kreis drehen? Dies dürfte in Zeiten von wenig sozialem Austausch für viele ein Thema sein.

Es kann sein, dass wir im Bett liegen und unsere Gedanken uns einfach fesseln. Manchmal können wir dieses Karussell nicht stoppen. Da kann es helfen, sich abzulenken, eine Serie schauen, sich kreativ betätigen, ein Bad nehmen – irgendetwas, das einem guttut. Ich glaube, es ist im Moment wichtig, dass wir lieb zu uns sind.

In unseren vier Wänden haben wir weniger Platz, für uns selber und auch einander aus dem Weg zu gehen. Diese räumliche Enge kann sich belastend auf die Stimmung als Paar oder als Familie schlagen. Wie schafft man es, diese Situation besser zu meistern?

Ich finde wichtig, dass man sich rechtzeitig Hilfe holt, wenn zu Hause eine angespannte Situation ist oder man das Gefühl hat, es ist mühsam miteinander reden. Bei Pro Juventute und beim Elterntelefon können sich Kinder und Familien rund um die Uhr beraten lassen. Es hilft, dass man zusammen anschaut, wie man sich organisieren möchte, beispielsweise was man kocht oder unternimmt während dieser aussergewöhnlichen Festtage. Oder auch Dinge wie Rückzugsorte neu verhandelt, etwa dass Mami oder Papi mal das Wohnzimmer nur für sich allein hat.

Bei manchen schlagen Unsicherheit und Stress auf die Essgewohnheiten, bei anderen auf den Medienkonsum. Wie gelingt es leichter, solche ungeliebten Corona-Gewohnheiten wieder loszuwerden?

Es braucht Zeit, bis aus Verhaltensweisen eine Gewohnheit wird. Es kann aber durchaus sein, dass sich gewisse Verhaltensmuster schon eingeschlichen haben. Ich glaube, es braucht erst mal Geduld, denn vielleicht verschwindet diese Gewohnheit, wenn man sich wieder normal der Arbeit oder seinen Freundschaften widmen kann. Auch hier hilft sich Zeit nehmen, lieb zu sich sein und in dieser aussergewöhnlichen Zeit nicht alles zu verändern und besser machen zu wollen. Vielleicht ist ja gerade diese Strategie sinnvoll, um über diese Krise besser hinwegzukommen.

Ich habe Yoga und Velofahren wieder für mich entdeckt. Haben auch Sie einen Lieblingstipp für diese Zeit, damit es gelingt psychisch gesund zu bleiben?

Das ist ein super Beispiel. Ich beobachte, dass viele per Zoom zusammen kochen und essen oder sich gegenseitig Essen in den Briefkasten legen. Das geht übrigens auch fürs Weihnachtsessen. Kreativ sein und dort, wo es möglich ist, auch mit unseren Unsicherheiten humorvoll und liebevoll uns gegenüber zu sein. Rede darüber, bleibe im Gespräch und hole dir Hilfe. Du darfst es. 



Zurück zur Startseite