«Ich habe grosse Angst vor dem Wasser» Über 700'000 Erwachsene können nicht schwimmen – so lernen sie es

Noemi Hüsser (Text), Nicole Agostini (Video)

4.10.2025

Über 700’000 Erwachsene können nicht schwimmen – es zu lernen, braucht viel Geduld

Über 700’000 Erwachsene können nicht schwimmen – es zu lernen, braucht viel Geduld

In der Schweiz können acht Prozent der Bevölkerung nicht schwimmen. In einem Kurs lernen sie nicht nur die richtige Technik, sondern vor allem, sich im Wasser sicher zu fühlen.

15.09.2025

In der Schweiz können acht Prozent der Bevölkerung nicht schwimmen. Wer es lernen will, braucht viel Geduld. Es geht dabei nicht nur die richtige Technik, sondern vor allem darum, sich im Wasser sicher zu fühlen.

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Noemi Hüsser (Text), Nicole Agostini (Video)

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Rund 8 Prozent der erwachsenen Schweizer Bevölkerung können nicht schwimmen – das betrifft über 700'000 Menschen.
  • Grund dafür ist oft Angst vor dem Wasser oder dass sie das Schwimmen schlicht nie gelernt haben.
  • 2024 haben 13 Prozent der 13- bis 15-Jährigen nach Angaben ihrer Eltern keinen Schwimmunterricht erhalten. Gründe dafür sind vor allem das Fehlen von Infrastruktur und ausgebildeten Lehrer*innen.
  • In Schwimmkursen lernen Nichtschwimmer*innen, ihre Angst zu überwinden und Sicherheit im Wasser zu gewinnen.

Kajsa Bornhauser beugt sich zu einer Kursteilnehmerin, die sich am Beckenrand festklammert, legt ihre Stirn auf deren Stirn und schaut ihr in die Augen. «Du hast es getan! Du bist geschwommen! Ich bin so stolz», ruft sie. Die Frau greift mit einer Hand zur Poolnudel, mit der anderen klammert sie sich weiter an den Rand. Sie schaut Kajsa an und lacht.

Sie gehört zu jenen acht Prozent der erwachsenen Schweizer Bevölkerung, die laut einer Umfrage des Forschungsinstituts gfs im Auftrag der Schweizerischen Lebensrettergesellschaft SLRG aus dem Jahr 2024 nicht schwimmen können. Das sind über 700'000 Menschen.

Und sie ist eine von zehn, die das ändern wollen. Deshalb besucht sie bei Schwimmlehrerin Kajsa Bornhauser von Sportaktiv, einer Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, den Breitensport in Zürich zu fördern, einen Grundlagenschwimmkurs.

Im Schwimmkurs geht es nicht nur um die richtige Technik, sondern auch darum, Angst zu überwinden.
Im Schwimmkurs geht es nicht nur um die richtige Technik, sondern auch darum, Angst zu überwinden.
Bild: Noemi Hüsser

Viele von ihnen haben das Schwimmen nie gelernt. Wie Milos. Früher ging er nur so weit ins Wasser, wie er stehen konnte. Jetzt will er es wegen seiner Kinder lernen. «Damit ich reagieren kann, wenn ihnen im Wasser etwas passiert», sagt er.

Eine weitere Studie der SLRG zeigt: 2024 haben 13 Prozent der 13- bis 15-Jährigen nach Angaben ihrer Eltern keinen Schwimmunterricht erhalten – obwohl er eigentlich im Lehrplan steht. Gründe sind fehlende Infrastruktur und zu wenig ausgebildete Lehrpersonen.

Milos hat ein klares Ziel: Er will im Meer schwimmen. Momentan findet Milos aber vor allem noch eines schwierig: «Richtig zu atmen.» Er ist nicht der einzige, der damit kämpft. «Was, wenn mir das Wasser in die Nase geht?», fragt eine andere Teilnehmerin, als sie von der einen Seite des Schwimmbeckens auf die andere schwimmen soll. Dinge, die geübte Schwimmerinnen automatisiert haben, müssen hier Schritt für Schritt gelernt werden.

«Mit dem Atmen haben viele Mühe, nicht nur Einsteiger*innen», erklärt Schwimmlehrerin Kajsa. «Im Wasser ist vieles anders als an Land. Wenn du es nicht kennst, dass Wasser in deine Ohren oder Nase kommt, oder dass es nass ist, wenn du die Augen öffnest, dann ist es sehr unangenehm.» Daran müsse man sich erstmal gewöhnen.

Schwimmlehrerin Kajsa Bornhauser möchte erreichen, dass sich ihre Schüler*innen im Wasser wohlfühlen.
Schwimmlehrerin Kajsa Bornhauser möchte erreichen, dass sich ihre Schüler*innen im Wasser wohlfühlen.
Bild: Noemi Hüsser

Kajsa spricht klar und direkt, bleibt aber immer einfühlsam. Wenn die Teilnehmer*innen eine Übung machen müssen, zeigt sie vor. «Stellt euch vor, ihr würdet mit euren Händen eine Schüssel auskratzen und sie dann ablecken», erklärt sie und macht mit ihren Armen Schwimmbewegungen vor.

Man spürt schnell, dass sie die Teilnehmer*innen nicht von oben herab betrachtet. Für sie sind es Menschen, die Aussergewöhnliches leisten. «Schwimmen lernen braucht so viel Mut und Überwindung. Ich bin beeindruckt von den Menschen, die es tun. Das ist so krass.»

Besonders, weil viele auch Angst hätten. Wenn sie traumatische Erlebnisse im Wasser gemacht hätten, zum Beispiel. «Das sind Leute, die eigentlich schon schwimmen konnten, es aber dann einfach nicht mehr hinbringen», erklärt Kajsa. Laut der gfs-Umfrage gaben 17 Prozent der Befragten an, schon einmal Angst gehabt zu haben, im Wasser zu ertrinken.

«Wenn ich mit Freund*innen schwimmen gehen will, muss ich immer eine Schwimmnudel dabeihaben»

Leslie

Kursteilnehmerin

Wie tief Angst sitzen kann, zeigt Leslies Geschichte. «Ich habe grosse Angst vor dem Wasser», erzählt sie. Eigentlich konnte sie schwimmen. Doch dann hatte sie unter Wasser eine Panikattacke. «Seither kann ich nicht mehr schwimmen», sagt sie.

Manchmal ist ihr das auch peinlich. «Wenn ich zum Beispiel mit Freund*innen schwimmen gehen will, aber immer eine Schwimmnudel dabeihaben muss.» Ohne die wagt sie sich nicht mehr ins Wasser. «Wenn ich den Boden nicht mehr spüre, werde ich panisch.»

Leslie hat seit einer Panikattacke im Wasser Angst und lernt das Schwimmen darum nun erneut.
Leslie hat seit einer Panikattacke im Wasser Angst und lernt das Schwimmen darum nun erneut.
Bild: Noemi Hüsser

Die Angst vor dem Wasser kennen auch Kinder, die das Schwimmen lernen, erklärt Kajsa, die seit zwei Jahren Erwachsene unterrichtet und zuvor Kurse für Kinder gegeben hat. Bei Erwachsenen sitze sie aber oft tiefer. «In meiner Erfahrung hängt Angst sehr fest damit zusammen, dass man nicht weiss, was kommt», sagt Kajsa, «dass man nicht weiss, was das Wasser mit einem macht.» Angst ist Unsicherheit und Ungewissheit. Diesen Satz wiederholt sie an dem Abend oft.

Kajsa will darum vor allem erreichen, dass sich die Teilnehmer*innen in ihrem Kurs im Wasser sicher fühlen. Wenn sie zu Beginn des Kurses in das Becken steigen, müssen sie zuerst ihren Kopf dreimal unter Wasser tauchen. Erst dann machen sie verschiedene Übungen. Zwischendurch versammeln sich immer wieder in der Mitte des Beckens in einem Kreis, halten die Luft an, tauchen mit dem Kopf ins Wasser ein und wieder raus.

Es ist der rote Faden des Kurses: Wer schwimmen will, muss sich im Wasser wohlfühlen. Und das ist oft schwerer als die richtigen Bewegungen zu lernen.

Die Teilnehmer*innen des Schwimmkurses gewöhnen sich mit Schwimmnudeln und anderen Hilfsmitteln Schritt für Schritt ans Wasser.
Die Teilnehmer*innen des Schwimmkurses gewöhnen sich mit Schwimmnudeln und anderen Hilfsmitteln Schritt für Schritt ans Wasser.
Noemi Hüsser

«Technik lässt sich einfacher korrigieren, da kann ich Dinge sagen wie: ‹Öffne deine Hände mehr›», erzählt Kajsa. Bei Angst brauche es einen anderen Ansatz. «Man muss die Menschen verstehen wollen – und den Weg mit ihnen gehen.» Einige bräuchten dazu eher Bestätigung, anderen müsse man die Chance geben, Dinge selbst auszuprobieren.

Dass Kajsa selbst das Schwimmen liebt, verraten nicht nur die Meerestiere, die sie auf ihrem linken Oberarm tätowiert hat. Sobald sie vom Wasser erzählt, strahlt sie: «Wasser ist so ein cooles Element, ich bin unglaublich gerne darin.» Diese Begeisterung will sie weitergeben. Das ist ein Grund, warum sie den Grundlagenkurs unterrichtet.

«Die beste Art, einen Ertrinkungstod zu verhindern, ist Schwimmen zu lernen.»

Kajsa Bornhauser

Schwimmlehrerin

Der andere Grund: Kajsa weiss, wie schnell Wasser gefährlich werden kann. Sie ist Rettungsschwimmerin und kennt Bademeister*innen, die schon Menschen aus dem Wasser retten mussten. Darum sieht sie in ihren Kursen auch eine grössere Verantwortung. «Die beste Art, einen Ertrinkungstod zu verhindern, ist Schwimmen zu lernen», sagt sie.

Wirklich schwimmen, sagt Kajsa, könne man erst, wenn man sich im tiefen Wasser sicher fühlt. Am letzten Tag des Kurses müssen die Teilnehmer*innen deshalb vom Beckenrand ins tiefe Wasser springen, kurz untertauchen und selbständig hinausschwimmen. «Dann ist für mich klar, sie können sich selbst retten», sagt Kajsa.

Bis dahin werden sie aber noch einige Male am Montagabend ins Wasser in der Schulschwimmanlage steigen. Dabei werden sie sich oft am Beckenrand festklammern, sich einige High Fives geben und zusammen anzählen, bevor sie gleichzeitig losschwimmen. «Habt ihr etwas gelernt?», wird Kajsa am Ende der Lektionen fragen, «und habt ihr euch im Wasser wohl und sicher gefühlt?»


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