Der Gesichtleser «Unser Gesicht ist die Antwort darauf, wie wir leben»

Von Sulamith Ehrensperger

9.12.2020

Nichts ist so aussagekräftig wie das Gesicht. Weltweit gibt es in den verschiedensten Kulturen 20 bis 30 Arten, Gesichter zu lesen.
Nichts ist so aussagekräftig wie das Gesicht. Weltweit gibt es in den verschiedensten Kulturen 20 bis 30 Arten, Gesichter zu lesen.
Bild: Getty Images

Wer in Gesichtern liest, sieht, ob jemand lügt, gesund oder verliebt ist. Was das Gesicht über uns und andere Menschen enthüllt, weiss Face Reader Eric Standop. Ein Gespräch über Lügen, Dreiecksblick und Pokerface. 

Herr Standop, mir ist ein bisschen mulmig zumute, wenn ich bedenke, was Sie alles aus meinem Gesicht lesen könnten. Was sehen Gesichtleser?

Sie sehen, was andere nicht einmal erahnen (lacht). Aber ich kann Sie beruhigen, wir alle kommen als Gesichtleser auf die Welt – nur haben wir Erwachsenen diese Fähigkeit vergessen. Als professioneller Face Reader versuche ich Potenziale der Menschen herauszulesen. Ich lese Charakter, Persönlichkeit, Talente und die Liebe, wie auch Mangelerscheinungen und Erkrankungen.

Worauf schaut ein Gesichtleser zuerst?

Die wichtigsten Merkmale sind Augen und Mund. Deswegen funktioniert auch der Smiley, der ist ja nur ein Kreis mit zwei Punkten und einem Strich. Warum sind die beiden so wichtig: Weil die meisten Muskeln in unserem Gesicht direkt dem Auge und dem Mund angepasst sind, das heisst, die schnellsten Veränderungen finden dort statt. Das bedeutet, Augen und Mund geben den Jetzt-Zustand wieder, man ist sozusagen up to date.

Was antworten Sie Menschen, die Face Reading für Hokuspokus halten?

Ich habe es zuerst auch für absoluten Unsinn gehalten, dann aber schnell gemerkt, dass Gesichtleser viel mehr wussten, als ich dachte. Ich glaube, viele Leute haben Angst, dass ihr Gesicht vielleicht doch mehr aussagt, als sie gern preisgeben würden. Physiognomik oder die Antlitz-Diagnostik sind uralte Teildisziplinen auch der ursprünglichen Medizin, um Gesichter zu lesen und schon bis 3000 Jahre alt. Aristoteles, Hippokrates oder Paracelsus, selbst Goethe, sie alle waren Gesichtleser. Mit der Moderne, der Industrialisierung, kamen dann andere Methoden und Gerätschaften etwa für Blutmessung oder Röntgen auf, welche diese Herangehensweisen abgelöst haben. Seit einiger Zeit jedoch bemühen sich besonders amerikanische Universitäten wieder um die Bedeutung und Aussagekraft des menschlichen Gesichts.

Wegen des Coronavirus gehen wir alle maskiert durch den Alltag. Ein Grund für Missverständnisse?

Die Maske macht es für viele schwieriger, ein Gegenüber zu erfassen. Ich beobachte, dass viele Menschen sich auch nicht mehr mit dem Augenblick näherkommen wollen – sie schauen den Mitmenschen nicht mehr an, ihr Blick huscht weg, sie schauen nach unten. Nur wenige sehen genauer hin und einem direkt in die Augen.

Zur Person: Eric Standop
Porträt Eric Standop Gesichtleser, Face Reading
zVg

Eric Standop begann seine berufliche Laufbahn als Journalist ehe er in der Unterhaltungsbranche in leitenden Funktionen arbeitete, zuletzt in der Computerspiel-Industrie. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere veranlassten ihn gesundheitliche Probleme zu einer Neuorientierung. Er bereiste die Welt und lernte die verschiedenen Techniken und Ansätze zum Face Reading kennen. In China war er über Jahre Schüler eines Gesichtlese-Meisters. Seit 16 Jahren ist Standop nun als Face Reader tätig und unterrichtet in seiner «Face Reading Academy» als Gesichtleser. Er veröffentlichte 15 Bücher zum Thema.

Beim Gesichtlesen muss man wortwörtlich seine Maske fallen lassen. Wie hat die Pandemie Ihr Lesen verändert?

Das Coronavirus hat viele Leute ängstlicher und nachdenklicher gemacht. Deshalb haben sich wohl auch die Fragen bei meinen Sitzungen, den Readings, verändert. Waren es früher solche zu Liebe, Ernährung oder Potenzialen, sind es jetzt Fragen zur Sinnsuche: Steht in meinem Gesicht, was ich mit dem Leben anfangen kann? Habe ich andere Talente als diejenigen, die ich kenne? Was ist meine Lebensaufgabe?

Finden Sie auf solche Sinnfragen tatsächlich im Gesicht Antworten?

Man kann eine Lebensaufgabe aus einem Gesicht lesen, wenn man sie sich erstmal ganz nüchtern anschaut und nicht zu mystifiziert. Ich konzentriere ich erst auf die Persönlichkeit, das Wesen, das man von Geburt an hat. Charakter ist das, was aufgrund von Erfahrungen, Erziehung, Kultur und Umwelt dazukam. Beim Gesichtlesen ist es eine Mischung aus einzelnen Merkmalen und Mimik.

Was kann ich als Laie aus einem Gesicht herauslesen?

Ob das Gegenüber fröhlich, traurig, müde oder gesund aussieht, können wir leicht erkennen. Woran macht man das fest? Ganz einfach an der Mimik. Wir können auch erkennen, dass jemand nicht gesund ist, etwa weil wir Schwellungen, Rötungen Verfärbungen, Schatten oder Verlust von Haaren gut erkennen können. Mit anderen Worten: Unser Gesicht ist die Antwort darauf, wie wir leben.

Sie beraten auch in Sachen Liebe. Was wollen Paare von Ihnen wissen?

Ich berate beispielsweise Menschen, die einen Partner suchen, aber keinen finden. Ich versuche Paaren zu helfen, die immer wieder Konflikte austragen oder sich fragen, ob sie zueinander passen. Und hin und wieder auch solche, die ein Kind haben möchten, es aber nicht klappt.

Sie können Kinderwunsch und Kinderlosigkeit tatsächlich vom Gesicht ablesen?

Man kann es versuchen. Ich sammle erst Basisinformationen im Gesicht und stelle Fragen zur Gesundheit, um daraus puzzleartig Informationen zu sammeln. Bei einer Frau beispielsweise war es so, dass sie eher wie ein Mann gelebt hat. Sie war eine Geschäftsführerin, hat jeden Morgen auf der Tretmühle Gas gegeben, Steaks gegessen und ein hartes Leben geführt. Sie hatte so auch viel Testosteron produziert, das war in ihrem Gesicht sichtbar. Für sie war das Kinderkriegen so eine Art ‹kriegerisches› Projekt. Bei einer anderen Beziehung hat es beispielsweise nicht gekappt, weil das Liebesleben litt. So konnte ich lesen, dass er fremdgeht.

Wie kann ich erkennen, dass ich angelogen werde?

Da gibt es keine Faustregeln, denn jeder lügt anders. Manche tun es, ohne mit der Wimper zu zucken, bei anderen flimmern die Augen wie verrückt. Manche schämen sich beim Lügen, andere freuen sich, weil sie eine Lüge durchgebracht haben. Das zu erkennen, das muss man tatsächlich ein bisschen lernen. Generell aber hat der Mensch ein gutes Erkennungssystem: 55 Prozent der Lügen werden auch ohne Übung erkannt – das ist immerhin mehr als die Hälfte. Mit ein bisschen Technik fliegen 85 bis 90 Prozent der Lügner beim Gesichtlesen auf.

Was ist mit dem Pokerface?

Ich habe auch Pokerspieler in China ausgebildet, in Macau, der grössten Spielerstadt der Welt. Das Problem mit dem Pokerface ist, dass man es nicht schafft, immer alles unter Kontrolle zu halten. Deshalb rate ich Pokerspielern ganz viel zu zeigen, quasi einen Überfluss an Informationen, damit das Gegenüber überfordert ist.

Kommen wir zurück zur Liebe: Ein Date ist wahrscheinlich der Moment, wo jeder mit Gesichtlesen beginnt – und wissen will, ob das Gegenüber interessiert ist.

Ob eine Verbindung besteht, verraten die Augen. Man verliebt sich ja auch in die Augen – und nicht ins Kinn oder die Ohrläppchen von jemandem. Der Dreiecksblick ist ein Klassiker beim Blickkontakt zwischen Männern und Frauen. Dabei wandert der Blick zwischen Augen und Mund hin und her. Kann man diesen Blick beim anderen entdecken, darf man vermuten, dass er oder sie interessiert ist.

Dennoch kommt es beim Daten immer mal wieder zu Missverständnissen.

Das Problem ist, dass dieser Dreiecksblick von Frauen deutlich schneller ausgeübt wird als von Männern. Deswegen kriegt der Mann oft nicht mit, ob die Frau an ihm interessiert ist. Ist sie nicht an ihm interessiert, fühlt sie sich belästigt, weil der ja stiert. Dieser Dreiecksblick ist entscheidend dafür, ob ein Date voranschreitet. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, zum Beispiel kann man bei der Frau auch sehr gut über die Lippen sehen, ob sie interessiert ist oder ihn loswerden will.

Das müssen Sie mir genauer erklären …

Wenn eine Frau mehrfach auf die Unterlippe beisst oder gar daran reibt, will sie ihr Gegenüber loswerden. Ist sie hingegen interessiert, wird sie sich die Oberlippe mit der Zunge befeuchten.

Was ist das Erstaunlichste, das Sie in den 16 Jahren mit Gesichtlesen erlebt haben?

Jede Woche gibt es da zahllose erstaunliche Geschichten von besonders ergreifend bis traurig bis besonders lustig. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll. Beispielsweise hatte ich mal ein Reading in Dubai mit einer saudischen Hoheit, die von 15 Bodyguards und Dienern in den Besprechungsraum begleitet wurde. Es ging um eine Gesundheitsfrage. Sie nahm den Schleier für nur drei Minuten ab, damit ich ihr Gesicht lesen konnte.

Was lässt sich nicht am Gesicht ablesen?

Jedes Thema, mit dem der Mensch zu tun hat, hinterlässt in irgendeiner Weise eine Spur im Gesicht. Die Frage ist nur, wie tief, wie profund. Ein Grund ist, dass unser Gehirn über Nervenbahnen mit dem Gesicht verbunden ist, ebenso sind es die Organe – das heisst: egal, was in uns irgendwie passiert, es leitet am Ende zum Gesicht.

Dann sollten wir uns – trotz Maske – wohl wieder mehr ins Gesicht schauen.

Ja, denn wir schauen in ein Gesicht, um uns zu informieren. Es kann uns mehr sagen als eine Körperhaltung, eine Visitenkarte, Klamotten oder Worte es können. Ich denke, das sollte uns wieder mehr ins Bewusstsein rücken.

Sein Wissen und Fallgeschichten offenbart der Meister-Facereader in seinem jüngsten Buch.
Sein Wissen und Fallgeschichten offenbart der Meister-Facereader in seinem jüngsten Buch.
Bild: GU Verlag

Bibliografie: «Ich lese dich. Geheimnisse eines Facereaders – Was das Gesicht über uns und andere Menschen enthüllt», von Eric Standop, erschienen im GU Verlag, ab 27 Franken. 

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