Schwyzer FasnachtVerena Steiger – die Frau mit den vielen Gesichtern
Von Barbara Schmutz
6.2.2020
Verena Steiger ist Drückerin, so heisst der Beruf der Maskenmacherin. In ihrem Atelier in Steinen SZ hütet sie die älteste Maskensammlung der Schweiz, ein Kulturgut von nationaler Bedeutung.
Drehen sich die Masken, die im Fenster des Jugendstilhauses hängen, zur Besucherin hin? Eine nach der anderen? Es dünkt sie, dass die weissen Gesichter beobachten, wie sie über den gekiesten Vorplatz geht, die Treppe hinaufsteigt und unter dem Vordach, getragen von zwei verschnörkelten, schlanken Säulen auf die Klingel drückt.
Bevor sich die Türe öffnet, schaut sie nochmal zu den Masken hin. Sie sind der Strasse zugewandt, den Fussgängern, die das Haus passieren, den paar wenigen Autos, die vorbeifahren. Gleichmütig, regungslos. Und doch signalisieren sie denen draussen, dass drinnen eine Welt ist, wie es sie in anderen Stuben kein zweites Mal zu sehen gibt.
Das Jugendstilhaus in Steinen SZ ist das Domizil von Verena Steigers Maskenatelier. Seit 1992 hält sie die letzte Maskenmanufaktur der Schweiz im Einfraubetrieb am Laufen und ist in ganz Europa die einzige, die professionell und in Handarbeit Wachsmasken herstellt. Federleichte zweite Gesichter, die sich genährt von der Körperwärme ihren Trägern anpassen und so lebendig wirken, als führten sie ein eigenes Leben.
Endlich Ordnung
Drückerin heisst Steigers Metier, weil beim Maskenmachen Stoff auf eine Gipsform gedrückt wird. Dass ihr Beruf einen Namen hat, weiss sie erst seit 2017, seit ihre Tochter Susan Steiger im Rahmen ihrer Abschlussarbeit für den Master Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste recherchierte, woher die Textil- und Wachsmasken stammen, die im Atelier der Mutter lagern.
Die Besucherin in Steigers Atelier weiss nicht, worauf sie ihren Blick als Erstes ruhen lassen soll. Auf dem Boden, der sich im Entrée ausbreitet, belegt in einem Rautenmuster mit schwarzen und beigefarbenen Plättli? Oder soll sie ihn den ellenlangen Gestellen entlang wandern lassen, die die eine Wand auf der ganzen Länge säumen und auf deren Tablaren ungezählte Maskenformen liegen? Heitere Gesichter und grimmige, solche mit Stupsnasen und riesigen Zinken, Glubschäugige und Verlebte, Hinterhältige und Unschuldige, Diktatoren und Präsidenten.
Die Hausherrin greift sich eine dicke Strickjacke, schlüpft rein, es ist kühl im Atelier. Sie geht von Zimmer zu Zimmer, über Linoleumböden und knarrende Holzriemen, die weiss gestrichenen Holzkassettendecken hängen tief. Die alten Tische, die an den Fenstern stehen, sind mit Farbtupfern gesprenkelt, in einem Raum steht ein Gusseisenmonster von Maschine, hundert Jahre alt, mit ihr stanzt Verena Steiger Löcher für Augen und Mund in die Masken.
«Das ist meine Sammlung»
Sie eilt voraus, Richtung Keller, öffnet erst eine Türe, dann eine zweite und zeigt auf Regalreihen: «Das ist meine Sammlung», sagt sie. «Endlich geordnet.»
Jahrelang hat sie aufgeräumt, um die über 430 Negativ-Maskenformen der Nummerierung nach zu stapeln. Und als die Ordnung vollendet war, fühlte sie sich erdrückt «von der Aufgabe, die älteste Maskensammlung der Schweiz zu hüten». Seit sie weiss, dass das Atelier wahrscheinlich von der Familie übernommen, die Bewahrung des Kulturguts von nationaler Bedeutung weitergeführt wird, ist ihr wieder leicht ums Herz.
Sie nimmt eine Form aus einem der Regale. Es sind zwei Blöcke, ungefähr so gross wie Backsteine, das Negativ für die Gipsform. Sie legt sie nebeneinander. Ein Gesicht ist zu sehen, die Nase nach unten liegt es auf dem Tisch. Steiger nimmt eine Spanngurte, zurrt die beiden Hälften der Negativform zusammen und fettet sie ein.
Nun rührt sie den Gips an, giesst ihn in die Negativform, nicht bis ganz oben, drückt einen abgerundeten Holzblock in die flüssige Masse, damit das Positiv auf der Rückseite hohl ist, lässt den Gips eine Weile härten und klopft dann mit einem Hammer vorsichtig auf die Negativform, bis sich das noch nicht vollständig trockene Positiv daraus löst. Sie bessert schadhafte Stellen aus, zuletzt poliert sie den feinen Grat weg, der mitten über das Gesicht läuft – die Naht zwischen den beiden Negativform-Hälften hat ihn verursacht.
Fragil und stabil, transparent und blickdicht
In Steigers Atelier ist das ganze Jahr über Betrieb. Sie macht Masken für Theater, Opern und für Pantomimen, grosse eiförmige Gesichter mit knubbligen Nasen und runden Augenöffnungen. Sie macht Commedia dell’Arte-Masken, die Formen dafür bekam sie vom Schauspieler Fredi Roth geschenkt, der sie selber angefertigt hatte.
Sie macht Masken aus Drahtgitter – eine Studentin der Accademio Teatro Dimitri ist für ein Projekt daran interessiert. Mit einem Pinsel tupft sie Nasenlöcher auf das feine Drahtgeflecht, malt Mund, Augen und Augenbrauen. Wer sie aufsetzt, wird einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Zwar ist nicht zu erkennen, wer hinter dem Gitter steckt, die Gesichtszüge aber schimmern durch, die Maskierte trägt zwei Gesichter in einem spazieren.
Am liebsten arbeitet Steiger mit Wachs. «Wachs fasziniert mich«, sagt sie. «Er ist gleichzeitig fragil und stabil, transparent und blickdicht.» Vor Jahren machte sie eine Ausstellung mit Wachsköpfen. Kopf für Kopf zog sie aus dem warmen, weichen Material «es war wie eine Geburt. Oder die Masken hier», sie zeigt auf die Gesichter im Fenster, «die habe ich innen bemalt, die Farbe schimmert nach aussen durch.» Sie möchte in Zukunft wieder vermehrt künstlerisch tätig sein. Will Masken drücken, die dünner sind als die jetzigen, transparenter.
«Das wär doch was für dich»
Seit September läuft das Atelier auf Hochtouren. Jahr für Jahr fabriziert Verena Steiger Hunderte von Wachsmasken für die Steiner und Schwyzer Fasnacht. In Kartonschachteln lagern, Gesicht auf Gesicht, das Domino, Päijassebueb und Päijassemeitli, das Hudi, der Alt Herr, der Blätz. Jede einzelne ist ein Unikat, jede hat Steiger von Hand gemacht.
Sie hat Gipsformen gefettet und feuchte Gaze- und Baumwollstreifen darauf aufgetragen, Schicht für Schicht mit Leim verbunden. Sie hat die Maske 24 Stunden lang trocknen lassen, hat sie von der Gipsform gelöst, Augen und Mund ausgestanzt, Lippen, Wimpern, Augenbrauen gemalt und das Gesicht mit Wachs behandelt. Einige der Formen, die sie fürs Maskenmachen brauchte, sind über hundert Jahre alt.
Und ihr Atelier? Wie weit reicht seine Geschichte zurück? Bis die Tochter sich für die Vergangenheit zu interessieren begann, wusste das Verena Steiger nicht, ihr fehlte die Zeit für Nachforschungen. Sie hatte ursprünglich Floristin gelernt, machte dann eine Theaterausbildung, perfektionierte in verschiedenen Lehrgängen Malen und Zeichen und bildete sich in dreidimensionaler Gestaltung weiter.
Dann lernte sie ihren Mann kennen, er war in der Maskenfabrik Müller in Gersau für den Einkauf von Fasnachtsartikeln zuständig. «Komm doch zu uns arbeiten, das wär etwas für dich», sagte Thomas Steiger seiner zukünftigen Frau. Sie folgte seinem Rat. 1982 kaufte das mittlerweile verheiratete Paar der Schappespinnerei Camenzind, den Besitzern der Maskenfabrik, die Firma ab, zügelten sie 1989 nach Steinen und nannten sie fortan Atelier. Die Namensänderung bezeichnete besser, was das Maskenmachen ist: ein Kunsthandwerk.
«Im Moment kann die Geschichte der Vorgänger des Maskenateliers Steiger bis ins Jahr 1896 zurückverfolgt werden», schreibt Susan Steiger in einem der drei Bände der Masken-Trilogie, die der Zuger Grafiker Heiri Scherer zum Maskenatelier Steiger herausgegeben hat. Ihre Recherchen führten Steiger nach Einsiedeln, wo im ausgehenden 19. Jahrhundert der Fabrikant Dominik Kälin Masken machte, das Handwerk dafür hatte er in Paris erlernt.
Seine Pariser Larven waren fein gearbeitet und leicht, so leicht, wie die Masken, die Verena Steiger macht. 1908, ein Jahr vor seinem Tod, verkaufte Kälin die Fabrik seiner Hausangestellten und Mitarbeiterin Berta Kromer. 1925 zügelte diese mit ihrem Mann die Maskenfabrik nach Speicher AR. Zwei Jahre später übernahm sie Friedrich Müller, und als er 1951 starb, führte seine Frau die Fabrik noch 23 Jahre lang weiter, bis sie sie 1974 an die Schappespinnerei Camenzind in Gersau verkaufte. Acht Jahre später, 1982, übernahm das Ehepaar Steiger die Fabrik, seit 1992 ist das Maskenatelier im Besitz von Verena Steiger.
Sie nimmt einen Päijassebueb von einem der Maskenstapel und streicht ihm über das Gesicht. Bald wird die Maske in einer Rott durch den Flecken Schwyz tänzeln. Einer der Narren aus dem Ensemble wird den Päijassebueb mit seinem Gesicht wärmen, bis er ihm zur zweiten Haut wird. Am Güdisdienstag dann streift er sie wieder ab. Er geht, in den Ohren den Trommelwirbel der Tambouren, zum Feuer, das auf dem Schwyzer Hauptplatz lodert, die Flammen zehn Meter hoch. Er geht näher hin, noch näher, ganz nah. Er zieht die Maske ab, wirft sie ins Feuer, der Wachs schmilzt.
Nächstes Jahr wird Verena Steiger neue Masken machen. Päijassebuebe und Päijassameitli, das Domino, das Hudi, den Alt Herr, den Blätz.
Zum Weiterlesen:«Masken», eine Trilogie über Verena Steigers Formensammlung, ihre Werkstatt und ihr Atelier, über die Fasnacht und den Brauch des Maskenverbrennens, Heiri Scherer (Herausgeber), NZZ Libro, 65 Fr.
Das sind die zwölf verrücktesten Pflanzen der Welt
Tödliches Gift: Der Wunderbaum (Ricinus communis) gilt mit seinen Früchten als giftigste Pflanze auf der Erde. Das Endosperm der Samen ist stark giftig, da es das toxische Eiweiss Rizin enthält. Rizin ist eines der potentesten natürlich vorkommenden Gifte überhaupt. Der Tod tritt unbehandelt durch Kreislaufversagen etwa 48 Stunden nach der Vergiftung ein. Der Wunderbaum ist in Ost- und Westafrika beheimatet, wird
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Gross, grösser, am grössten: Der Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) im Westen der USA ist das massivste beziehungsweise voluminöseste bekannte Lebewesen der Welt. Der immergrüne Baum kann bis zu 95 Meter hoch und einen Stammdurchmesser von 17 Meter haben.
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Kletternder Parasit: Mit einem Durchmesser von über einem Meter bildet die Riesenrafflesie (Rafflesia amoldi) die grösste Einzelblüte. Allerdings existiert die gigantische Blüte der Kletterpflanze nur wenige Tage, dann zerfällt das rote, nach Aas riechende Organ. Zurück bleibt ein Haufen schwarzen Schleims.
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Blüte mit Heizung: Naht die Blütezeit, macht die Titanwurz eine erstaunliche Verwandlung durch: Bis zu zehn Zentimeter am Tag schiesst ihr gigantischer Blütenstand nach oben. Und um Insekten für die Befruchtung anzulocken, verströmt das Fortpflanzungsorgan einen Aasgeruch und heizt sich auf 36 Grad Celsius auf.
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Königin der Anden: Die Riesenbromelie (Puya raimondii) ist die weltweit grösste Bromelie, mit mehr als zehn Metern Höhe. Sie hat auch eine der grössten Blütenstände aller Pflanzen und ist eine vom Aussterben bedrohte Art, die in den Anden in Peru und Bolivien beheimatet ist.
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Ganz schön alt: Der Riesen-Eukalyptus (Eucalyptus regnans) wächst als immergrüner Baum, der ein Alter von etwa 400 Jahren erreichen kann. An bevorzugten Standorten kann er Wuchshöhen von 65 Metern in 50 Jahren erreichen. Er gilt als der höchste Laubbaum der Welt, möglicherweise sogar als der höchste Baum überhaupt. Bei einem 1872 gefällten Exemplar wurden 132 Meter an Höhe gemessen.
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Königlich stark: De Riesenseerose Victoria ist wohl eine der eindrucksvollsten Pflanzen auf dem blauen Planeten überhaupt. Mit bis zu drei Metern hat sie den grössten Blattdurchmesser. 1840 entdeckt vom Botaniker Richard Schomburgh, wurde sie benannt nach Queen Victoria. Viele Botanische Gärten bauten in der Folge eigene Victoria Häuser.
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Gefiederte Blätter: Die Raphia-Palme ist vorwiegend im tropischen Afrika beheimatet. Ihre Blätter gelten mit bis zu 25 Meter Länge als die grössten im Pflanzenreich. Sie sind nicht nur sehr gross, sondern auch gefiedert und bleiben nach dem Absterben an der Pflanze.
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Schweres Früchten: Der Jackfruchtbaum (Artocarpus heterophyllus) ist in Indien beheimatet. Er bekommt, wenn man von Zuchterfolgen wie Riesenkürbisse und dergleichen einmal absieht, die schwersten Früchte. Sie können mehr als 30 Kilogramm wiegen.
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Über 4000 Jahre alt: Im Patriarch Grove in den White Mountains in Kalifornien stehen 17 Exemplare der Langlebigen Kiefer (Pinus longaeva), die über 4000 Jahre alt sind. Ein Baum, dessen Alter von 4700 Jahren durch Auszählung der Jahresringe in einem kleinen Bohrkern bestimmt wurde, trägt den Namen «Methuselah». (Archivbild)
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Fast 10'000 Jahre alt: Über die älteste individuellen Lebewesen wird, je nach Definition, gestritten. Aber eine Pflanze ist es auf jeden Fall: Eine Gemeine Fichte (Picea abies) in Schweden, deren Stamm viel jünger ist, konkurriert mit den Langlebigen Kiefern. Sie geht aus Wurzelwerk hervor, das seit etwa 9600 Jahren existieren soll.
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Affen-Gesicht: Wer die Dracula simia ansieht, wundert sich wahrscheinlich nicht, warum sie den Beinamen Affen-Orchidee trägt. Viel Fantasie um das Gesicht eines Primaten zu erkennen, braucht es nicht. Die Pflanze wächst in 300 bis 600 Meter Höhe in Peru und Ecuador und duftet nach Orange.
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Klein, aber hübsch: Die Wurzellose Zwergwasserlinse (Wolffia arrhiza) gilt als kleinste Blütenpflanze über- überhaupt. Ihre Blüten sind für das menschliche Auge unsichtbar. Der Pflanzenkörper selbst ist maximal 1,5 Millimeter lang. Und übrigens: Sie ist als Aronstabgewächs mit der Titanwurz recht eng verwandt.
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