Für «blue News» unterwegs (1/5) Warum Max Küng das Funkloch als Sehnsuchtsort erlebt hat

Von Max Küng

25.12.2019

Ein Plakat vor dem Restaurant Guhwilmühle warnt die moderne Kundschaft: «Infolge Funkloch leider keine Kreditkartenzahlungen möglich.»
Ein Plakat vor dem Restaurant Guhwilmühle warnt die moderne Kundschaft: «Infolge Funkloch leider keine Kreditkartenzahlungen möglich.»
Bild: Max Küng

«Bluewin» startet heute eine grossangelegte Serie über Funklöcher in der Schweiz. Kein Geringerer als Max Küng hat sich auf den Weg gemacht, hat für uns geschrieben und fotografiert. Ganz ehrlich? Man darf es sich nicht entgehen lassen ...


Das Beste aus diesem Jahr: Zum Jahresende bringt «Bluewin» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 18. Juni 2019.


47°28'33.3"N

8°51'34.7"E

Guhwilmühle, Hofstetten bei Elgg, Kanton Zürich

Dieses Funkloch ist genauer betrachtet gar kein Loch. Es ist eher ein Funkschlitz: Ein paar Meter breit bloss, aber kilometerlang. Ein Weg führt in diesen Schlitz hinein, am Rand von 8353 Elgg: Ein Dorf mit 4'925 Einwohnern, zehn Kilometer östlich von Winterthur gelegen, hart an der Grenze zum Thurgau, im Wappen drei schwarze Bärenköpfe mit goldenen, herausgestreckten Zungen.

Der ansässige Faustballverein spielt in der Nationalliga A, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich: Er hat alle seine vierzehn Saisonspiele verloren, steht mit null Punkten am Tabellenende. In Elgg gibt es ein reges Vereinsleben, die offizielle Vereinsliste zählt mehr als sechzig Einträge. Es gibt den Schiessverein Dickbuch; die Jagdhorngruppe Waldkauz «ist mit Fürst-, Pless- und Parforcehorn-Hörnern in Stimmung B besetzt»; der Jahresbeitrag im Pilzverein kostet fünfundzwanzig Franken.

Der Verein «Interessensgemeinschaft Mobilfunk mit Vernunft» hat sich zum Ziel gesetzt, die Belastung von Menschen, Fauna und Flora insbesondere durch Mobilfunkanlagen auf dem Gebiet der Gemeinde Elgg und der angrenzenden Region so gering wie möglich zu halten und fordert das «Recht auf ein analoges Leben». Es gibt einen «Kebap Treff» an der Bahnhofstrasse, wo man auch eine Pizza Hawaii mit Truthahnschinken bekommt. Die Metzgerei Würmli betreibt eine Filiale an der Kirchgasse 7, und das Telefonbuch kennt fünf Coiffeursalons – einer heisst Renata, einer Brigitte – sowie zwei Kosmetikstudios («Nagelhüsli» und «Dream Lounge»).

Der Weg entlang des Bachs schlängelt sich, steigt an, schmale Brücken queren das Wasser, das mal schneller fliesst, mal langsamer, sich staut oder über Schwellen schiesst.
Der Weg entlang des Bachs schlängelt sich, steigt an, schmale Brücken queren das Wasser, das mal schneller fliesst, mal langsamer, sich staut oder über Schwellen schiesst.
Bild: Max Küng

Am südlichen Dorfrand liegt eine Schneckenfarm – genauer ist es die grösste Freiland-Schneckenzucht-Anlage des ganzen Landes: Eine Million der Viecher kriechen dort herum und warten darauf, geerntet zu werden. Die Zuchtschnecken aus Elgg werden in Zürich in der Kronenhalle serviert, kommen aber auch im Ristorante Vicania in Vico Morcote oder bei Andreas Caminada im Schloss Schauenstein auf den Teller. Die Spitzen-Schnecken gibt’s eingemacht im Glas oder lebendig direkt ab Hof (zwei Franken sechzig Rappen das Stück). Der rare Schneckenkaviar kostet pro Kilo zweitausend Franken. Günstiger sind die ebenfalls erhältlichen Körperpflegeprodukte aus Schneckenextrakt, etwa die Bodylotion «für spürbar geschmeidigere Haut».

Etwas westlich der Schneckenfarm fliesst die Eulach, ein gut zwanzig Kilometer langer Nebenfluss der Töss. Der rechte Quellfluss der Eulach ist der Farenbach. Und so heisst auch das Tobel, welches sich vor einem auftut: Farenbachtobel – der Funkschatten-Schlitz. Strichlein um Strichlein verschwindet auf dem Display des iPhones, je tiefer man in die Schlucht hineinsteigt, der Quelle des Bachs entgegengeht, der sich dort tief in die Landschaft gefressen hat. Drei Strichlein sind es noch, dann zwei, dann noch eines – bis der Empfang ganz und gar verschwindet, einen die Landschaft verschluckt und man in das Reich des Funklochs getreten ist. Man weiss nun: Für eine gewisse Zeit wird man nicht mehr erreichbar sein. Für eine Weile verschwindet man von der Welt.

Doch dann sieht man schon die alte Schrift auf einer verwitterten Holzfassade, geschwungen und verschnörkelt hingepinselt, kaum kommt man aus dem Wald.
Doch dann sieht man schon die alte Schrift auf einer verwitterten Holzfassade, geschwungen und verschnörkelt hingepinselt, kaum kommt man aus dem Wald.
Bild: Max Küng

Der Weg entlang des Bachs schlängelt sich, steigt an, schmale Brücken queren das Wasser, das mal schneller fliesst, mal langsamer, sich staut oder über Schwellen schiesst. So manche Stelle lässt einen innehalten, denn der Ausblick lohnt sich: Wasserfälle, ausgespülte Felsen, Totholz im steilen Gelände. Und es wäre nicht einmal sonderlich überraschend, ein kleiner Dinosaurier bräche aus dem Grün hervor, sagen wir ein Velociraptor, lugte einen an mit schräg gestelltem Kopf und listigen Augen – und frässe einen auf (from nose to tail, oder auch umgekehrt).

Denn es ist wild hier, das Grün ist dicht und satt, moosüberwachsene Baumstrünke am Wegesrand blicken einen an wie Fabelwesen. Nur ein Dröhnen lässt einen dann den Kopf heben und in den von den Baumkronen versperrten Himmel blicken: Ein Flugzeug – eben gestartet, bald landend – erinnert einen daran, dass da draussen noch eine andere Welt existiert; aber bloss kurz, denn bald ist das ferne Grollen des ungesehenen Jets wieder verschwunden, verliert sich der Blick wieder im tiefen Grün.

Zum Ende hin steigt das Funkloch-Tobel nochmals etwas steiler an, ein Steg wurde in die Schlucht gebaut, um sie zu überwinden, dünne Stelzen stützen ihn, hoch fällt das Wasser rechterhand in den Gumpen. Die Höhe würde reichen, sich vom Steg in den Tod zu stürzen. Aber weshalb sollte man dies tun, hier in der Natur? Und dann noch so kurz vor dem Ziel?

Beinahe schade, ist der magische Marsch nach einer halben Stunde schon zu Ende, kommt man wieder aus dem Wald, man denkt, man hätte noch langsamer gehen sollen, dann hätte man mehr davon gehabt. Doch dann sieht man schon die alte Schrift auf einer verwitterten Holzfassade, geschwungen und verschnörkelt hingepinselt, kaum kommt man aus dem Wald: «RESTAURANT GUHWILMÜHLE – GESELLSCHAFTSSAAL – REELE GETRÄNKE – KALTE SPEISEN – TELEPHON».

«Telephon» war früher mal ein Argument. «Telephon» war früher mal modern. «Telephon» war früher mal Vorsprung durch Technik. Damals, als die Dinger noch Kabel hatten.

Eine Katze kam eben von der Wiese her, im Maul eine frisch gefangene Maus. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Die Katzen scheinen hier pünktlich zu Mittag zu essen.
Eine Katze kam eben von der Wiese her, im Maul eine frisch gefangene Maus. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Die Katzen scheinen hier pünktlich zu Mittag zu essen.
Bild: Max Küng

Die Guhwilmühle ist lange Zeit schon keine Mühle mehr, in der Korn gemahlen wird, dafür aber ein Restaurant. Im Jahr 1832 wurde der Innenraum der Beiz erbaut – und blieb seither unverändert, verströmt heute den Geist der fernen Zeit. Ein Plakat aber warnt die moderne Kundschaft: «Infolge Funkloch leider keine Kreditkartenzahlungen möglich.» Ich hatte glücklicherweise Bargeld in der Tasche. Einen rechten Batzen sogar. Also trat ich näher.

Eine Katze kam eben von der Wiese her, im Maul eine frisch gefangene Maus. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Die Katzen scheinen hier pünktlich zu Mittag zu essen. Und auch mein Magen knurrte – so laut, wie der Bach zuvor gegurgelt hatte. Freundlich knirschte der Kies unter meinen Wanderschuhen. Der Wirt kümmerte sich um das Feuer des Holzkohlegrills, der in einem Häuschen untergebracht ist, wie auch ein mannshohes Wasserrad, das dazu genutzt wird, an den Wochenenden den Drehspiess anzutreiben, der einen dicken Braten oder ein Spanferkel über der Glut rotierend röstet. Ein mit Wasserkraft betriebener Drehspiess: Wie genial! Greta Thunberg würde vor Freude in die Hände klatschen!

Ich muss gestehen, ich betrat die Gartenbeiz nicht ohne Angst vor einer gewissen Enttäuschung. Denn einerseits ist das Leben generell reich an Enttäuschungen, andererseits hatte ich auf Tripadvisor nachgelesen, wie die Guhwilmühle von der Kundschaft rezipiert wird. Die Guhwilmühle rangiert bei Tripadvisor auf Rang 1530 in der Kategorie «Restaurants in Zürich» – von total 1793 Kneipen, Beizen, Restaurants. Sechs von einundzwanzig Besuchern bewerteten die Beiz zwar als «ausgezeichnet», gleich viele aber als «ungenügend». Ich las: «Unfreundlich und voll daneben». Ich las: «Sehr unfreundlich – nicht zu empfehlen.» «Sonntags-Verderber» stand dort. «Nie wieder!!!» Es wurden viele Ausrufezeichen verwendet in den Kommentaren, die wenig schmeichelhaft waren.

Natürlich weiss ich um die Problematik von Tripadvisor. Ich weiss auch um die Problematik von jenen Menschen, die sich verpflichtet fühlen, dort ihre ihrer Ansicht nach fachmännischen Kommentare abzugeben. Aber so sind die Einträge auf Bewertungsplattformen eben: Hat man sie mal gelesen, wirken sie wie leises Gift, ob man will oder nicht.

Nicht ohne gewisse Vorbehalte also setzte ich mich an den Tisch. Aber bald schon fiel die Anspannung von mir ab: Das Wirte-Paar war am Tag meines Besuchs bestens gelaunt und verströmte ansteckende Relaxlaune. Ich dachte erleichtert, was ich ja eigentlich schon gewusst hatte: «Tripadvisor: Was für ein Käse! So Internet! So unecht!»

So gewaltig das Steak auf dem Teller anzusehen war, so grausam gut schmeckte es dann, aussen knusprig, innen weich wie Seidentofu, würzig die Kräuterbutter.
So gewaltig das Steak auf dem Teller anzusehen war, so grausam gut schmeckte es dann, aussen knusprig, innen weich wie Seidentofu, würzig die Kräuterbutter.
Bild: Max Küng

Die Speisekarte in der Guhwilmühle ist übersichtlich, ein Blatt bloss, von Hand geschrieben. Aber: Je kleiner die Karte, desto besser. Erstens fällt die Auswahl leichter, zweitens ist es ein Indiz für die Verwendung von Frischprodukten. Auf der Karte standen an jenem Tag Steaks, Schnitzel und Würste vom Grill, zudem Salate, Speck und Schwartenmagen. Ich bestellte einfach das Teuerste auf der Karte (das Teuerste ist bekanntlich nicht zwingend das Beste, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das Teuerste das Schlechteste ist, ist meiner Ansicht nach kleiner als umgekehrt – die Gesetzmässigkeiten der Logik haben mich schon immer in ihren Bann gezogen): Entrecôte vom Black Angus Rind mit Kräuterbutter für achtundzwanzig Franken und fünfzig Rappen.

Der Wirt kam mit dem rohen Entrecôte an den Tisch, zeigte es nicht ohne Stolz und fragte, ob es recht sei. Ich nickte. Das war es, sehr sogar, denn: Das Entrecôte war gewaltig dick. Ein rechter Mocken Fleisch. Ein Liedchen summend ging der Wirt davon und legte es aufs Feuer – und es wurmte mich, dass ich keine Briefwaage dabeihatte. Ich hätte das Entrecôte gern nachgewogen. Im Stillen schätzte ich es auf 375,9 Gramm und machte mir eine Notiz im Hinterkopf: «In Zukunft immer eine Briefwaage dabeihaben!»

So gewaltig das Steak auf dem Teller anzusehen war, so grausam gut schmeckte es dann, aussen knusprig, innen weich wie Seidentofu, würzig die Kräuterbutter.

Sehr zufrieden sass ich dort am kleinen Tisch und ass im Funkloch mein Entrecôte, nichts trübte die Idylle, ja, ich war sehr zufrieden in jenem Moment mit mir und der Welt, welche zu grossen Teilen weit weg war. Da klingelte plötzlich ein Telefon am Nebentisch. Ungläubig dreinblickend legte einer an dem Tisch sein Zackenmesser zur Seite, mit dem er sich gerade ein Stück Speck von der Schwarte gesäbelt hatte, griff nach seinem klingelnden Handy. «Gopferdammi», sagte sein Begleiter, «ist doch ein Funkloch hier. Hast du ein Satellitenhandy oder was?» Der Andere checkte kurz die Nummer auf dem Display, liess es weiterklingeln. «Ist meine Frau.» – «Deine Frau?» – «Ja. Die erreicht mich überall. Auch im letzten Funkloch. So ist sie, meine Frau. Ein Kontrollfreak halt.» – «Gopferdammi», sagte sein Begleiter noch einmal. Dann erstarb das Klingeln, der Angerufene kümmerte sich wieder um seinen Speck.

Der Begriff Funkloch: Vor nicht langer Zeit noch war es ein Wort, das einen Makel beschrieb, einen Defekt, etwas, das man nicht wollte. Nun aber steht er für einen Sehnsuchtsort.
Der Begriff Funkloch: Vor nicht langer Zeit noch war es ein Wort, das einen Makel beschrieb, einen Defekt, etwas, das man nicht wollte. Nun aber steht er für einen Sehnsuchtsort.
Bild: Max Küng

Schnell griff ich mein iPhone, konnte nicht anders, ein Reflex, checkte die Anzeige. Aber: Keinerlei Empfang. Funkloch total. Gott sei Dank! Also schrieb ich keine SMS, checkte weder Instagram noch mein Mail-Account, googelte auch nichts, las keine Online-News. Gemächlich ass ich weiter mein Entrecôte, nickte den herumschleichenden Katzen zu, und als die Wirtin an den Tisch trat und freundlich fragte, ob es schmecke, da bejahte ich und dachte, wie schön es war, wenn man auf eine Frage eine ehrliche Antwort geben kann. Als ich aufgegessen hatte, brav, da lehnte ich mich zurück und sah einer Libelle bei ihrem Aufklärungsflug zu, ein Esel rief etwas von der Weide, es klang nach grosser Einsamkeit.

Der Begriff Funkloch: Vor nicht langer Zeit noch war es ein Wort, das einen Makel beschrieb, einen Defekt, etwas, das man nicht wollte. Nun aber steht er für einen Sehnsuchtsort, die Möglichkeit einer Zeitreise und sich vor der Welt zu verstecken. So wie in der Guhwilmühle und drum herum. Ich dachte: Lang lebe die Guhwilmühle, dieses Wasser- im Funkloch! Lang leben die sirrenden und schwirrenden Libellen, die aus dem Tobel herfliegen, lang leben die Katzen mit den gefangenen Mäusen im Maul, lang leben die klönenden Esel auf der Weide. Und ich dachte, was ich immer noch denke: Lang lebe das Funkloch!

Zum Autor: Max Küng

Max Küng, 1969 geboren, stammt aus Maisprach BL – dort wuchs er auf einem Bauernhof auf. Seit 20 Jahren schreibt er Texte und Kolumnen für «Das Magazin». Er hat Romane und andere Bücher publiziert, zuletzt

Max Küng
Max Küng
Bild: Dan Cermak

erschien die Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» bei Kein & Aber. Derzeit arbeitet Küng an seinem neuen Roman, dieser wird im Frühling 2020 erscheinen. Max Küng lebt in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Er fährt gern Velo.

Für «Bluewin» unterwegs

Für den zweiten Teil der Serie besucht Max Küng seine Heimat Baselland. Die Geschichte erscheint am Mittwoch, 25. September, auf «Bluewin».

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