Sprachpfleger Wenn das Risiko zur Chance wird

von Mark Salvisberg

10.7.2019

Chance oder Risiko? Für viele eine Frage der Perspektive.
Chance oder Risiko? Für viele eine Frage der Perspektive.
Bild: iStock

«Wenn man kopfüber in einen unbekannten Fluss springt, ist die Chance gross, sich zu verletzen.» Wer so etwas texte, meint der Sprachpfleger, sollte sich nochmals mit der Chancen-Risiken-Analyse beschäftigen.

Der Begriff Chance hat seine Wurzeln im gesprochenen Latein (cadere, werfen) und, wenn man nicht ganz so tief gräbt, im Altfranzösischen (cheance, glücklicher Wurf in einem Würfelspiel).

Chance bedeutet immer etwas Positives und hat im Deutschen nach wie vor lediglich den Sinn einer günstigen Gelegenheit, etwas Bestimmtes zu erreichen.

Somit ist der folgende Satz grammatisch korrekt: «Bei uns haben Sie reelle Chancen, Ihren Wunschpartner zu finden.»

Aus Unwissenheit ins Gegenteil verkehrt

Im Englischen jedoch ist chance nicht nur eine Chance; der Angelsachse kennt dafür mehrere Bedeutungen, zum Beispiel Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, ja er spricht sogar von der chance of injury, das heisst auf Deutsch Verletzungsgefahr, nicht etwa Verletzungschance.

Das wollen viele Netflix-Geschädigte aus deutschen Landen nicht wahrhaben und übertragen die englischen Bedeutungen munter in ihre Sprache. Und so muss unser Wort Chance für allerlei Übles und Überflüssiges herhalten:

«Die Chance ist gross, dass du Koks an dir hast», titelte einst ein Onlineportal. War der Redaktor einfach nur ehrlich? Doch wache Geister stellen sich die Frage, worin denn die Chance liege, wenn wir zufällig Spuren von Drogen an den Händen aufwiesen.

Auch wenn man in der Absicht des Sich-Benebelns seine Nase daran pressen und kräftig sniffen würde – ein subjektives Wohlbefinden würde sich nicht einstellen. Richtig und neutral formuliert heisst es: «Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du Koks an dir hast.»

Gefängnisaufenthalt oder Gewichtszunahme gefällig?

Kürzlich war bei der Facebook-Gruppe, die die Auslieferung der baskischen Aktivistin Nekane verhindern will, zu lesen: «Die Chance ist gross, dass Nekane bald wieder verhaftet wird!» Doch weil eine Verhaftung keine Chance darstellt, ausser bei Schutzhaft, müsste es korrekt lauten: «Die Gefahr ist gross, dass Nekane bald wieder verhaftet wird!»

Und schliesslich textete eine Website zum Thema Diät: «Die Chance ist gross, dass Sie an Gewicht zulegen.» Hier von Chance zu reden, wäre einzig bei hungernden und kranken Menschen angebracht. Das neutrale Wort Wahrscheinlichkeit passt hier perfekt, zumal erwiesen ist, dass ein paar Pfund mehr keine Gefahr und sicher keine Chance darstellen.

Berichtet also ein Redaktor über eine grosse Chance auf Blessuren bei einem Sprung in ein trübes Gewässer, so läuft er Gefahr, dass der Textchef seine Geschichte zurückweist. Wenn er Glück hat, bekommt er eine zweite Chance.

Zur Person: Mark Salvisberg war unter anderem als Werbetexter unterwegs. Der Absolvent der Korrektorenschmiede PBS überarbeitet heute
täglich journalistische Texte bei einer grösseren Schweizer Tageszeitung.

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