Dick und diskriminiert, Teil 2 «Wer sagt: ‹Iss weniger und du nimmst ab›, begeht Mobbing»

Von Sulamith Ehrensperger

12.3.2021

Das weit verbreitete Vorurteil, übergewichtige Menschen seien schlichtweg disziplinlos, hat Folgen: Betroffene werden dadurch stigmatisiert. 
Das weit verbreitete Vorurteil, übergewichtige Menschen seien schlichtweg disziplinlos, hat Folgen: Betroffene werden dadurch stigmatisiert. 
Bild: Getty Images

Übergewichtige Menschen werden oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Höchste Zeit, endlich genauer hinzusehen und das Stigma «Iss doch einfach weniger» zu begraben, fordert Ernährungsdiagnostiker Jürg Hösli.

Von Sulamith Ehrensperger

12.3.2021

Herr Hösli, viele Pfunde, viele Sorgen: Übergewichtige wie Astrid werden in der Öffentlichkeit häufig stigmatisiert. Was beobachten Sie?

Was Astrid durchmacht, höre ich in meinen Beratungen Tag für Tag. Und es trifft mich zutiefst. Meist sind das sehr sensible Menschen mit einer oftmals schwierigen Vergangenheit, die im Alltag solchem Mobbing ausgesetzt sind. Das ist schlicht grausam.

Die Vorurteile gegenüber Menschen, die reichlich Kilo auf die Waage bringen, sitzen tief. Nimmt die Diskriminierung zu?

Ich beobachte eine Polarisierung. Die Pandemie hat viele Ängste geschürt, und wo Ängste sind, sucht man sich Sündenböcke, auf die man zeigen kann. Das Problem: Es wird immer noch nicht verstanden, wie komplex die Thematik ist. Übergewichtigen Menschen wird meist pauschal geraten, abzunehmen. Auch in etablierten Abnehmprogrammen wird das so beworben. Doch das stimmt nicht. Und dieses Unverständnis ist für mich die Hauptursache für die Stigmatisierungen.

Die grosse Mehrheit der Bevölkerung belegt fettleibige Menschen mit negativen Stereotypen. Für zwei Drittel der Befragten einer Studie sind die Hauptgründe für Übergewicht klar Bewegungsfaulheit und übermässiges Essen.

Zur Person: Jürg Hösli
Jürg Hösli
erpse

Jürg Hösli ist Ernährungswissenschaftler und greift gerne kontroverse Themen aus Sport, Psychologie und Ernährung auf. Er ist Begründer der Ernährungsdiagnostik und der Schule für Ernährungsdiagnostik erpse in Winterthur, Zürich und Solothurn.

Das ist völlig falsch! Übergewicht ist nicht nur eine Sache der falschen Ernährung, sondern vor allem eine Folge, weil wir gesellschaftlich immer mehr unter Druck geraten. Essen ist eine Kompensationshandlung, deren Ursache der wachsende Stress ist. Und damit einhergehend mangelnde Essstrukturen im Alltag. Viele essen über den Tag zu wenig, am Abend dann massiv zu viel. Die Folgen sind unter anderem ungesundes Bauchfett, Übergewicht und Entzündungsprozesse. Hunger hat einen direkten Zusammenhang mit Stress: Unter Druck legen wir ein anderes, meist ungesünderes Essverhalten an den Tag. Aber das ist immer noch nicht in den Köpfen der Leute angekommen.

Manche isolieren sich, vereinsamen. Viele essen dann mehr und werden unter Umständen noch dicker. Die Stigmatisierung trägt also dazu bei, dass sich unter Umständen ihr Essverhalten verschlechtert.

Ja. Wir alle haben ein Kompensationsverhalten, um uns selber zu spüren, einen Wert zu geben und uns aufzuwerten, wenn wir uns herabgesetzt fühlen. Die einen kaufen sich dann neue Schuhe, die anderen essen. Es ist der Versuch, sich selber mehr Nähe zu geben – und manche können dies nur über das Essen. Die Belohnungsmaschinerie läuft bei ihnen über den Bauch. Ob das eine Frage der Erziehung oder der Gene ist, ist schwierig zu beurteilen.

Abnehmen ist doch ganz einfach: weniger essen – mehr bewegen. Diese Auffassung vertreten viele Normalgewichtige, wenn es ums Abnehmen geht. Warum ist das ein Irrtum?

Machen wir mal folgende Rechnung: Eine Frau ist rund 200 Kilo schwer, um die 1,70 gross, und sie macht jeden Tag um die 5'000 bis 7'000 Schritte. Das ist ein enormer Kraftaufwand, etwa so, wie wenn ich bei jedem Schritt eine 120-Kilo-Hantel auf dem Buckel hätte. Natürlich würde ich diese auch die Treppe hinauf mittragen. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie täglich nur um die 1'000 Kilokalorien essen dürften? Übergewichtige Menschen sind Hochleistungsmenschen, die oft unglaubliche Energien und Stoffwechsel haben, und darum mehr schaffen als andere. Derart hohe Energiefähigkeiten brauchen aber viel mehr Kraftstoff, also Essen. Wir haben von vielen Übergewichtigen die Physiologie bestimmt und berechnet, dass sie um die 20 bis 30 Prozent mehr Kalorien brauchen als andere. Sobald sie strukturiert und über den Tag essen, abends nach Hause kommen und keine Hungerattacken mehr haben, klappt es auch mit der Gewichtsreduktion.

Warum glauben viele immer noch, dass Abnehmen nur mit weniger essen geht?

Wer einfach sagt: ‹Iss weniger und du nimmst ab›, begeht übles Mobbing, das das Abnehmen meistens erst recht verhindert. Wenn es so einfach wäre, wären wir alle schlank. Dennoch glauben die Leute, dass sie nur abnehmen, wenn sie dem Körper weniger geben. Aber: Einer Firma, der es nicht gut geht, die insolvent ist, würden Sie auch nicht das Letzte abverlangen und nicht mehr mit Cash füttern, weil Sie sonst einen Breakdown riskieren. Es ist dann besonders wichtig, dass Sie im richtigen Moment investieren. Wir müssen lernen, dem Körper genau das Richtige zur richtigen Zeit zu geben – und Stress über das richtige Mass an Bewegung möglichst zu reduzieren.



Geht es um die Ernährung, müssen sich Betroffene so einiges anhören. Viele schämen sich, in der Öffentlichkeit zu essen, weil sie unverhohlen angestarrt werden.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Tag lang mit einem grossen roten Fleck im Gesicht herumlaufen. Genau das erleben Dicke jeden Tag: Sie werden komisch angeschaut und beurteilt. Sie können sich denken, wie dies das Selbstbewusstsein beeinträchtigt! Eine Kundin hat mir geschildert, wie sie im Zug ein Sandwich essen wollte. Sie musste es wieder einpacken, weil sie derart böse Blicke erntete. Zu Hause hat sie dann nicht nur ein Sandwich gegessen, sondern auch einen Kübel Glace – aus Frust.

Was könnte helfen, um die bestehende Stigmatisierung in der Bevölkerung abzubauen?

Das Wichtigste ist, dass man darüber spricht. In Pandemiezeiten zählen Übergewichtige zu den Risikopersonen, es kann nicht sein, dass wir sie ausgrenzen. Weil vielen von ihnen die sozialen Kontakte fehlen, versuchen sie, das Alleinsein und negative Gefühle mit Essen zu kompensieren. Das ist eine Perversion. Es kann nicht sein, dass sich Übergewichtige nicht mehr trauen, das Schöggeli zum Take-away-Kaffee anzunehmen, weil sie sich vor schrägen Blicken fürchten und sich gar rechtfertigen müssen. Es ist eine Anmassung, anderen Leuten in die Ernährung reinzureden. Essen ist etwas so Intimes.


Wir widmen der Thematik weitere Berichterstattung. Lesen Sie auch Teil 1 der «blue News»-Miniserie: Eine Betroffene erzählt, wie sie wegen ihres Übergewichts im Alltag gemobbt wird.