Cindy Gallop, Pionierin der Aufklärung«Wir zeigen reale Paare, die echten Sex haben»
Von Sarah Leu
21.6.2022
Die britische Unternehmerin und Werbeberaterin Cindy Gallop gilt als Patin der Sex-Tech-Branche. Mit ihrem Erotikportal, viel Cleverness und einer Prise Grössenwahn versucht sie, eine Revolution anzuzetteln.
Von Sarah Leu
21.06.2022, 05:55
28.06.2022, 10:14
Sarah Leu
Dass sie während ihrer Studienzeit in Oxford stets von ihren Lovern verlassen wurde, begrüsst Cindy Gallop rückblickend. Ansonsten wäre sie womöglich noch auf die Verliebtheit hereingefallen und hätte ganz konventionell geheiratet.
Stattdessen legte die Britin eine bemerkenswerte Karriere in der Werbebranche zwischen Schanghai und New York hin und begab sich in ihren Vierzigern auf eine «sexuelle Odyssee mit jungen Männern zwischen neunzehn und dreissig», die ihr Leben auf einen neuen Kurs brachte, wie sie es selbst beschreibt.
Gallops Direktheit ist massgeblich dafür verantwortlich, dass ihr TED-Talk «Make Love Not Porn» von 2009 nach wie vor einer der erfolgreichsten überhaupt ist. Dass eine Businessfrau auf der Bühne über sexuelle Vorlieben, Sperma und den Einfluss von Online-Pornografie auf die Gesellschaft spricht – das gab es zuvor nicht.
Auf unverkrampfte Weise soll auch ihr im selben Jahr gegründetes Erotikportal «Make Love Not Porn» (MLNP) zur Enttabuisierung und zu einer gleichberechtigten, glücklicheren Gesellschaft beitragen.
Wie das funktionieren soll, erklärt die 62-Jährige beim Zoom-Interview zwischen Zürich und New York.
Frau Gallop, im internationalen Vergleich: Sind Schweizerinnen und Schweizer verklemmt?
Ganz und gar nicht! Bei den Seitenaufrufen meiner Plattform «MLNP» steht die Schweiz jedenfalls auf Platz zwei, direkt hinter den USA. Die Pandemie hat uns einen ordentlichen Popularitätsschub verliehen.
Ähnlich wie Pornoseiten und Sextoys allgemein?
Zur Person: Cindy Gallop
Geboren 1960 in der britischen Grafschaft Buckinghamshire, verbrachte Cindy Gallop ihre Kindheit im Sultanat Brunei. Nach ihrem Studium der englischen Literatur in Oxford zog es sie in die Werbebranche. Mit 29 Jahren gründete sie in New York die US-Dependance der Agentur Bartle Bogle Hegarty (BBH) und wurde fünf Jahre später zur «Advertising Woman of the Year» gekürt. Nach weiteren zwei Jahren beschloss sie, sich eigenen Projekten zu widmen. Mit der Internetplattform MakeLoveNotPorn.com setzt sie sich heute für eine ethisch unbedenkliche Art der Pornografie ein, und mit AllTheSkyHoldings.com möchte sie den weltweit ersten Sex-Tech-Fonds auf die Beine stellen.
Nachhaltiger und zukunftsweisender. Wir zeigen auf unserer Website reale Paare, die miteinander über ihre Vorlieben sprechen und echten Sex haben, der so viel innovativer, kreativer, überraschender und erregender ist, als es herkömmliche Pornos je sein werden.
Gerade in der Pandemie wurde uns in unserer Fixierung auf die digitale Zukunft bewusst, wie verzweifelt wir uns nach echten menschlichen Berührungen, nach Intimität, Liebe und Beziehungen sehnen. Hinzu kamen erzwungene Nähe und Häuslichkeit durch Lockdown und Homeoffice, die erfrischend enttabuisierend wirkten.
Können Sie das erläutern?
Wenn Familien, WGs, Partnerinnen und Partner über Monate zusammen eingesperrt sind, führt dies zu einem Wegfall der normalerweise geltenden gesellschaftlichen Schranken von Schuld, Verlegenheit und Scham. Auf einmal müssen Eltern sich der Tatsache stellen, dass sich der Teenager-Sohn hinter seiner Schlafzimmertür selber befriedigt. Und statt alles wie gewohnt zu ignorieren, fängt die Familie an, sich mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Es ist zwangsläufig zu einem Mehr an Miteinander gekommen, weil wir uns den anderen und unserer eigenen Menschlichkeit stellen mussten.
Sie bieten reale Sexvideos an. Wie garantieren Sie, dass nicht doch professionelle Pornodarstellerinnen und -darsteller dahinterstehen?
Indem wir jedes eingereichte Video persönlich kuratieren und mit den Macherinnen und Machern in Kontakt treten, und zwar mit beiden Hälften eines Paares. Wir besprechen auch, welche Arten von Kommentaren okay sind und was geblockt werden soll. Gerade in Zeiten von #MeToo und den Diskussionen um Einvernehmlichkeit sollte das verdammt noch mal auch jedes andere Tech-Unternehmen tun.
Instagram und andere Social-Media-Plattformen setzen pauschal auf künstliche Intelligenz. Dabei wird das Zeigen einer weiblichen Brustwarze oft eher geblockt als die Hasskommentare unter solchen Posts.
Und ich kann Ihnen auch sagen, warum all diese jungen, weissen, männlichen Gründer der riesigen Technologieplattformen und Milliardäre sich einen Dreck um einen erweiterten Schutz scheren: Weil sie selbst bis heute weder online noch offline Ziel von Belästigung, Missbrauch, Rassismus, sexuellen Übergriffen, Gewalt, Vergewaltigung oder Rache-Pornos geworden sind. Deshalb haben sie bislang auch nicht proaktiv für die Verhinderung all dieser Dinge auf ihren Plattformen gesorgt. Wissen Sie, was ich wirklich will? Eine soziale Revolution lostreten.
Wie das?
Ich werde Ihnen mal aus einem Tweet an uns vorlesen «MLNP ist ziemlich heiss und echt. Ich habe dort ein Video gefunden, in dem die Frau tatsächlich ‹Ich liebe dich› sagt, während sie mit ihrem Mann schläft. Ehrlich gesagt habe ich angefangen zu weinen.»
Tatsache ist, dass Männer genauso gern mit Frauen schlafen, nur fehlen ihnen die Vorbilder. Bei uns sehen sie andere Männer, die sich verletzlich zeigen, offen sind, auch mal einer Frau die Führung überlassen, Frauen Freude bereiten und es geniessen. Das ist Sexualerziehung, und die funktioniert nun mal am besten, wenn man hinschaut, statt immer nur zu lesen oder zuzuhören. Wir wollen es jedem einzelnen Menschen auf der Welt leichter machen, offen und ehrlich über Sex zu sprechen, denn das tun wir derzeit nicht.
Der Einfluss, den Internetpornos auf die Psyche und die Sexualität nehmen, beginnt aufgrund des Zugriffs auf mobile Geräte immer früher. Schon Viertklässler sehen Hardcore-Inhalte. Die wenigen Stunden Sexualkunde an den Primarschulen dürften das nicht auffangen können. Was tun?
Das, worum mich Eltern und Lehrpersonen seit Jahren bitten: Eine «Academy of Sex Education» aufbauen, ein Sex-Portal, das sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet, aber auch Informationen für Erwachsene bietet.
Was wäre bei so einer Academy zu finden?
Ich lade Sexualpädagoginnen und -pädagogen aus der ganzen Welt ein, Kursmaterialien, Videos, Bücher, Comics und Blog-Posts einzureichen. Wir suchen altersgerechte Hilfsmittel und Inhalte, die anleiten, wie man mit Sechsjährigen über Sex spricht, genauso wie Unterrichtsmaterial für Erwachsene. Einiges davon ist kostenlos, für anderes verlangen wir Gebühren, und sämtliche Inhalte werden wir persönlich kuratieren. Meint jemand, etwas zu der in den USA sehr populären Enthaltsamkeitserziehung einreichen zu müssen, werden wir das garantiert nicht veröffentlichen.
Solange die Academy noch nicht am Start ist – was empfehlen Sie Eltern, wenn es um Aufklärung geht?
Es ist einfach, das Richtige zu tun. Wenn Ihr Kind wissen will, woher die Babys kommen oder andere Fragen stellt, wäre es kontraproduktiv, den Raum zu verlassen, das Thema zu wechseln oder peinlich berührt zu reagieren. Antworten Sie ehrlich und geradeheraus. So öffnen Sie den Kommunikationskanal zum Thema Sex und vermitteln, dass Sie immer für Ihr Kind da sein werden, auch wenn es älter wird. Des Weiteren ist es heutzutage leider so, dass, wenn man mit seinem Kind über Sex spricht, gleichzeitig über Pornos gesprochen werden muss.
Was gilt es dabei zu beachten?
Ich glaube, dass sich Eltern viel zu viele Sorgen machen. Denn je nach Altersstufe expliziter oder weniger explizit, gilt es im Grunde nicht mehr zu sagen als: «Also, Schatz, wir haben gerade über Sex gesprochen, und du weisst, dass wir gemeinsam Videos und Zeichentrickfilme anschauen, in denen Dinge passieren, die nicht real sind. Nun, es gibt auch Filme und Videos über Sex, und die sind auch nicht echt. Und deshalb können sie ziemlich verwirrend sein, weshalb sie für Grosse gemacht sind. Aber wenn dir mal jemand so etwas zeigt oder du darüber stolperst, komm zu mir, ich kann es dir erklären.» Und bitte, bringen Sie ausserdem den Kindern endlich Manieren bei!
Worauf wollen Sie hinaus?
Eltern bringen ihren Kindern gute Tischmanieren bei, Arbeitsmoral, Verantwortungsbewusstsein. Aber niemand erzieht die Kinder dazu, sich gut im Bett zu benehmen. Das sollten sie aber. Empathie, Sensibilität, Grosszügigkeit, Respekt und Ehrlichkeit sind beim Sex Werte, die bewusst gelehrt werden sollten. Das ist übrigens auch der einzige Weg, die Vergewaltigungskultur zu beenden.
Inwiefern?
Egal, ob sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Gewalt – das alles sind Bereiche, in denen die Täterinnen und Täter sich auf unsere Unfähigkeit, über Sex zu sprechen, verlassen und sich sicher sein können, dass die Opfer niemals öffentlich sprechen werden. Wenn wir also die Gesellschaft dazu bringen, offen über Sex zu sprechen, schaffen wir eine glücklichere Welt für Frauen und Männer. Und wenn wir das tun, kommen wir dem Weltfrieden einen Schritt näher, kein Witz.
Die Gesundheitsstudie
Nico Schaerer
Die dritte Ausgabe des «Sanitas Health Forecast» trägt den Titel «Das neue Du» und will Mut machen, seine Gesundheit in die eigene Hand zu nehmen. Wie gelingt der persönliche Health Restart? Wie können wir endlich besser schlafen? Wie sieht die ideale Hirnpflege aus? Und wie können wir uns gesund ernähren, ohne auf Genuss zu verzichten? Antworten auf diese Fragen sowie spannende Reportagen, Trends, Porträts und Interviews liefert der «Sanitas Health Forecast» auf über 400 Seiten. Die jährlich erscheinende Publikation kommt als informatives Coffee-Table-Book daher und wird von Sanitas im Wörterseh-Verlag herausgegeben. Sie enthält zudem die neusten Erkenntnisse der ersten Studie zur Gesundheit der Zukunft, für die jedes Jahr 2000 Schweizerinnen und Schweizer befragt werden. Für die Inhalte zeichnet eine Redaktion aus 30 unabhängigen Journalistinnen und Journalisten verantwortlich. Unter diesem Link kann der «Sanitas Health Forecast» für 18 Franken bestellt werden.
In der «Sanitas Health Forecast 2022»-Studie verneinen 65 Prozent der Frauen, allerdings nur 45 Prozent der Männer, in ihrem Liebesleben etwas zu vermissen. Unterdrücken die Frauen ihre wahren Bedürfnisse, oder sind sie einfach zufriedener?
Das Problem bei Umfragen zum Thema Sex bleibt immer das gleiche: Die absolute Wahrheit ist sehr schwierig herauszubekommen, weil die Menschen sich ihr nicht stellen wollen, selbst wenn die Ergebnisse anonymisiert sind. Deswegen tendiere ich eher zu der These «nicht ganz ehrlich».
Könnte die wirtschaftliche Unterlegenheit der Frauen in einem Zusammenhang mit einer etwaigen sexuellen Anspruchslosigkeit stehen?
Oh, absolut! Und dahinter stehen sehr komplexe Gründe und eine jahrhundertealte Unterdrückung. Historisch gesehen wurden nun mal sämtliche Institutionen, einschliesslich Regierungen und Religionen, von Männern dominiert. Uns Frauen wurde es in dieser patriarchalischen Gesellschaft nie erlaubt, die eigene sexuelle Handlungsfähigkeit auszudrücken. Dass sich das noch nicht breitenwirksam geändert hat, liegt nicht zuletzt daran, dass es zu wenig Frauen wie mich gibt.
Sie meinen Businessfrauen, die in der Sexbranche investieren?
Ich meine Frauen, die durchhalten, auch wenn uns überdurchschnittlich viele Steine in den Weg gelegt werden.
Könne Sie das bitte noch genauer erklären?
Wer im Sex-Tech-Bereich ein Geschäft aufbauen will, muss sich der frustrierenden Tatsache stellen, keine Werbung machen zu dürfen. Nicht mal in den sozialen Medien. Sie wissen schon: Facebook, Twitter, Instagram, selbst auf Reddit. Das ist ein geschlechtsspezifisches Thema, das den Bankrott der Unternehmen, die sich mit Menstruation, Menopause oder Fruchtbarkeit befassen, befeuert. Dabei birgt der riesige Markt enormes Potenzial, und es mangelt nicht an Ideen. Der Grund, warum Sie noch von keiner gehört haben, ist die Schwierigkeit von Vermarktung und Finanzierung. Als mir klar wurde, dass ich einen Zugang zu all diesen Sex-Tech-Deals habe, fasste ich den Entschluss, nicht nur zwei Millionen Dollar für die Finanzierung von MLNP zusammenzubekommen, sondern 200 Millionen Dollar für eine eigene Sex-Tech-Holding namens All the Sky.
Bitte erzählen Sie uns von einigen verheissungsvollen Innovationen.
Da wäre meine Freundin Emily Sauer, die wie viele andere Frauen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr hatte. Also erfand sie den «Ohnut», einen Donut-ähnlichen, konzentrischen Ring aus Silikon, den man auf den Penis stülpt und der die Tiefe der Penetration bestimmt. Oder Frances Tang und ihre «Awkward Essentials», darunter der «Drip Stick». Wer keine Kondome benutzt, kennt das Problem: Der Mann kommt in dir, und du kannst entscheiden, ob das Laken ruiniert wird oder du fluchtartig das Bett verlässt. Der Stick löst das Problem. Es ist eine Art Einwegschwamm am Stil, der das Ejakulat aufnimmt. Alles Tech-Ventures, die auf einem persönlichen Problem fussen und nun eine enorm effektive Lösung bieten, von der Milliarden Frauen profitieren würden.
Und was ist das nächste grosse Ding?
Das Wichtigste vorab: Diese Frage darf nie im Passiv gestellt werden, ok? Denn wenn sich beispielsweise als nächstes grosses Ding in der Sextechnologie ändern soll, dass weibliche Gründerinnen gleichberechtigt zu männlichen Gründern finanziert werden, wird das nicht aufgrund einer wunderbaren organischen Veränderung geschehen, bei der weisse, männliche Investoren ganz von selbst sagen: «Oh, jetzt ist es an der Zeit.» Fuck that shit! Ich warte nicht, bis sich etwas ändert. Ich sorge dafür, dass sich etwas ändert.
Bötschis Mutprobe: Er weint, aber zieht es eiskalt durch
Manche suchen beim Eisbaden den Nervenkitzel, andere erhoffen sich eine positiven Effekt auf die Gesundheit. blue News-Redaktor Bruno Bötschi hat es ausprobiert – und hat geweint vor Angst und gelacht vor Glück.