Sprachpfleger Wörter, die Grenzen sprengen

Von Mark Salvisberg

13.5.2020

Manchmal ist es des Guten zu viel. 
Manchmal ist es des Guten zu viel. 
Bild: Getty Images

Statistik ist zurzeit en vogue: Wie mordssteil oder flach ist die Corona-Kurve? Auch der Sprachpfleger fällt gerade von einem Extrem ins andere und präsentiert Wörter, die aus dem Rahmen fallen.

Wir leben gerade in extrem ungewöhnlichen Zeiten, doch jetzt wird gelockert. Warum sich also nicht einmal zurücklehnen und sich ganz locker, abseits von Genitiv und Co., den ausserordentlichen Eigenschaften von Wörtern zuwenden?

Zehn auf einen Streich

Verargen Sie es mir bitte nicht, wenn ich nun etwas einsilbig werde. Am besten, Sie nehmen einen Löffel zur Hand, denn es wird nahrhaft. Suppe? Ja: Borschtsch! So heisst die russisch-osteuropäische Spezialität mit unglaublichen zehn Buchstaben und nur einer Silbe, das schlägt fast alles.

Folgende Einsilber haben genauso viele Lettern: schleichst, schrumpfst und schlauchst, quietschst, schmauchst und schnarchst. Ein «Glück» für die längsten einsilbigen deutschen Wörter, dass Borschtsch kein Genitiv-s hat ...

Die Bandwürmer schlechthin

Beim längsten deutschen Wort überhaupt ist Skepsis geboten, denn Wörter, vornehmlich Substantive, lassen sich ziemlich einfach verlängern. Bis vor einigen Jahren (bis zu seiner Abschaffung) offiziell das längste Wort im deutschen Sprachraum war, Achtung: Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz.



Allein die Abkürzung ist stossend lang: RkReÜAÜG! Da hält das längste Duden-Wort nicht mehr mit: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Seine Abkürzung ist bekannter: ADHS.

Inoffiziell die längsten Wörter sind mit grosser Wahrscheinlichkeit solche aus der Wissenschaft. Diese können weit über hundert langweilige Buchstaben, Zahlen und Zeichen lang sein. Ein Muster aus der Chemie: (2S,5R,6R)-6-(2-Amino-2-phenyl-acetyl)amino-3,3-dimethyl-7-oxo-4-thia-1-azabicyclo[3.2.0]heptan-2-carbonsäure. Erklärung und Abkürzung erspare ich Ihnen ...

Die Wort-Chamäleons

Die meisten Ausdrücke haben, oft zu unserer Überraschung, mehr als einen Sinn, man spricht von Polysemie, was übrigens keine Krankheit ist. Nehmen wir das einfache Wort ausser; dieses gibt es als Präposition, nach ihm folgt ein Dativ: Ausser ihr kann das niemand. Oder als Konjunktion; es leitet einen Nebensatz ein: Er wird hingehen, ausser wenn seine Freunde absagen.

Nun gibt es Ausdrücke mit über zwanzig (Unter-)Bedeutungen, zum Beispiel Schlag.



Da gibt es den Schlag mit der Faust oder dem Hammer, den Schlag als Geräusch, denjenigen gegen die Mafia, den Schlag der Wellen oder des Herzens, den Schlag der Uhr, ja sogar der Nachtigall, und da ist der Blitzschlag oder derjenige, der einen trifft oder den man durch das Schicksal erleidet; es gibt jenen, der die Bäume fällt, denjenigen der Hose oder den für die Tauben, den Schlag Suppe oder jenen zum Kaffee, den Menschenschlag oder den, in dem Menschen leben, aber auch Pferde; und da sind noch der Schlag Weizen oder jener Schlag, den Seeleute auf den Poller legen.

Womit ich mich erfrecht habe, einen Satz mit hundert Wörtern zu schreiben. Entschuldigen Sie!

Bei diesem Fauxpas lasse ich es nun bewenden. Ich hoffe, Sie geniessen die seit Kurzem geltenden «erweiterten Freiheiten» und verhalten sich extrem ... zivilisiert.

Zur Person:
Mark Salvisberg war unter anderem als Werbetexter unterwegs. Der Absolvent der Korrektorenschmiede PBS überarbeitet heute
täglich journalistische Texte bei einer grösseren Tageszeitung.

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