Kolumne Würde das Schweizer Unwort des Jahres noch gewählt, hiesse es ...

Von Michael Angele

16.1.2020

Mitunter ergibt das Wort Unwort ein Unwohlsein, eine Unwucht im Gefüge der Wörter.
Mitunter ergibt das Wort Unwort ein Unwohlsein, eine Unwucht im Gefüge der Wörter.
Bild: Keystone

In Deutschland wurde das Unwort des Jahres gekürt – «Klimahysterie». Unser Kolumnist, der in Berlin lebende Berner, hat deshalb eine kleine Umfrage gestartet und das Schweizer Unwort zu eruieren versucht. 

In Deutschland wurde das Unwort des Jahres 2019 gewählt. Es ist das Wort «Klimahysterie». In den vergangenen Jahren waren es: betriebsratsverseucht, alternativlos, Döner-Morde, Opfer-Abo, Sozialtourismus, Lügenpresse, Gutmensch, Volksverräter, alternative Fakten, Anti-Abschiebe-Industrie.

«Anti-Abschiebe-Industrie» wurde im Mai 2018 vom deutschen Verkehrsminister Alexander Dobrindt verwendet, es ist seine Wortschöpfung und hat nur über die Wahl zum Unwort des Jahres kurz in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden. Unwissenschaftlicher Auswurf einer linken Professorenrunde, sagen darum die Kritiker zum Unwort des Jahres.

In all den von uns gewählten Worten drücke sich ein antidemokratisches, menschenverachtendes Denken aus, meinte dagegen die Jury, bestehend aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten.

Wer von «Klimahysterie» spricht, sei ausserdem wissenschaftsfeindlich. Nicht jeder, der etwa den Hype um Greta Thunberg mit solchen Worten kritisiere, sei ein Nazi oder ein totaler Leugner des Klimawandels, argumentieren wiederum die Gegner. Das Wort «Klimahysterie» ist auch in der Schweiz bekannt. In SVP-Kreisen zum Beispiel.

Hätte man es also auch hier zum Unwort des Jahres gekürt? Oder hätte man etwas ganz anderes genommen? Vielleicht sogar etwas, was auch das sogenannte Volk für ein Unwort hält?

Das letzte war: «Inländervorrang light»

Bis 2016 wurde in der Schweiz tatsächlich ein Unwort des Jahres gewählt. Das letzte war «Inländervorrang light». Vielleicht hätten sie für 2019 wieder etwas etwas Originelleres und spezifisch Helvetisches genommen, schreibt mir der Autor und Kabarettist Bänz Friedli, der damals in der Jury war.

«Vielleicht aber auch Klimawandel» – wobei: eher nicht, denn wir nahmen ja «eher Wortschöpfungen, die euphemistisch, verschleiernd und beschönigend waren, zum Beispiel ‹erlebnisorientierter Fan› (Stapo Zürich) für Hooligan». Oder eben «Inländervorrang light».

Was tun? Ich startete eine eigene Umfrage unter Schweizern. Ohne den geringsten wissenschaftlichen Anspruch, aber mit möglichst viel Aussagekraft. Zuerst habe ich einen Filmemacher aus Graubünden gefragt, der für den SFR arbeitet und in Berlin lebt. Seine Antwort: «Ich kann das Wort ‹Twitter› nicht mehr hören, aber das ist jetzt kein Unwort im klassischen Sinne ...»

Ist natürlich ‹Genderpolizei›

Ich versteh's, aber es ist die typische Antwort eines abgehobenen Intellektuellen. Ich musste näher an die Menschen ran, näher an die Schweiz. Nach Zürich. Eine Frau des Wortes, eine bekannte Schriftstellerin. Schriftstellerinnen wissen doch wo der Schuh drückt. Ihre Antwort: «Mein Unwort? Ist natürlich ‹Genderpolizei›. Liebe Grüsse!»

Menno, so kommen wir nicht weiter.

Ich geben dem Kulturbetrieb eine letzte Chance, frage einen Musiker aus Biel, eine Stadt ohne Universität, mit viel Industrie. «Mein Unwort des Jahres ist ‹framing›».

Tja, das ist alles so überreflektiert, so weit weg von den Sorgen und Nöten der normalen Menschen. Meine Schwester muss es richten, sie arbeitet in Bern auf einem Bundesamt. Denn: Wer ist der Normalste unter den Normalen in der Schweiz. Es ist der Berner Beamte, die Angestellte.

Dialog mit der Familie

«Was ist dein Unwort des Jahres, Schwesterherz?»

«Ach schwierig. spontan wäre ich für göre mit zöpfen. aber das sind drei worte und noch nicht gut genug.»

«Comme on, und bitte: Nichts aus dieser links-grün versifften Blase» – ich setze vorsichtshalber fünf Smilies dazu.

Sofort kommt die Antwort: ... «links-grün-versifft. da haben wir das wort.»

Jetzt hilft nur noch meine Mutter.

«Hallo Mam, hier war Klimahysterie› das Unwort des Jahres. Was wäre es für dich?»

«Natürlich für mich auch. Vielleicht noch ‹Dichtestress› (Anmerkung des Kolumnisten: War 2014 das Unwort des Jahres in der Schweiz.) ‹Guetnacht‹ wäre vielleicht auch eins. Also Guetnacht.»

Ja, guetnacht.

Aus seiner Blase kann man vielleicht entkommen, der Familie wie man weiss, sicher nicht. Finde ich aber grad sehr okay.

Michael Angele, 55, bildet zusammen mit Jakob Augstein die Chefredaktion der Wochenzeitung «Der Freitag». Angele ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

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