Nadia Räss «Die Intoleranz einiger Jodler macht mich wütend»

Bruno Bötschi

7.2.2018

Nadia Räss: «Wenn ich singe, bin ich im Hier und Jetzt. Ein Leben ohne Singen kann ich mir nicht vorstellen.»
Nadia Räss: «Wenn ich singe, bin ich im Hier und Jetzt. Ein Leben ohne Singen kann ich mir nicht vorstellen.»
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Für sie, sagt Nadia Räss, sei das Singen Psychohygiene und das Jodeln ihr Therapeut. Ein Gespräch über die menschliche Stimme und darüber, was ihr Klang alles mit uns macht.

Ein eindrücklicher, überraschender und mutiger Film kommt diese Woche in die Schweizer Kinos: «Der Klang der Stimme» von Regisseur Bernhard Weber. Erzählt wird die Geschichte von Menschen, die mit Leidenschaft den Klang und das Volumen ihrer Stimme ausloten – und dabei auch an Grenzen stossen.

Die Produktion des Filmes dauerte mehrere Jahre. «Man spürt, dass sich die Macher intensiv mit dem Thema 'Singen' auseinander gesetzt haben und sich ihm auf sensible Art näherten», sagt Jodlerin Nadia Räss, die im Film zu sehen ist.

«Der Klang der Stimme» stellt das Singen in seiner ganzen Breite und Vielfalt vor, ohne werten zu wollen. Das kommt gut an: Vergangene Woche gewann der Film an den 53. Solothurner Filmfestspielen den Prix du Public.

Bluewin: Frau Räss, welchen Sinn hat das Jodeln, warum gibt es diese Art des Singens?

Nadia Räss: Jodeln ist eine Urart des Singens. Während dem Jodeln kann ich allein durch die Klangfarbe der Stimme und ohne Worte meine Gefühle ausdrücken. Das tut gut.

Warum ist Jodeln gerade in der Schweiz derart verbreitet?

In der Schweiz ist das Jodeln in den letzten 100 Jahren durch den Jodelverband institutionalisiert worden. Das ist sicherlich ein Grund, warum das Jodeln hierzulande sehr verbreitet ist. Es wird aber auch in anderen Ländern ohne Text und mit verschiedenen Stimmregistern gesungen, nur sagt man dort dieser Gesangsart oft anders.

Der Film «Der Klang der Stimme», der diese Woche in die Kinos kommt, erzählt Geschichten von Menschen in der Schweiz, die mit Leidenschaft die Grenzen der menschlichen Stimme neu ausloten. Wenn Sie Jodeln, was passiert da mit Ihnen?

Wenn ich singe, bin ich im Hier und Jetzt. Ein Leben ohne Singen kann ich mir nicht vorstellen. Singen ist für mich Psychohygiene, Jodeln ist mein Therapeut.

Sopranistin Regula Mühlemann bezeichnet sich im Film als Klang-Fetischistin.

Eine wunderschöne Aussage.

Sind Sie auch eine Klang-Fetischistin?

Ja, aber an einem anderen Ort. Die Stimme von Regula Mühlemann ist unglaublich berührend. Es ist jedoch nicht der Klang, den ich für meine Art des Singens suche. Als Jodlerin bin ich auf der Suche nach archaischen Klängen.

Es heisst, die Stimme sei der Klang der Seele.

Ich bin überzeugt davon, wenn ich im Inneren, also in meiner Seele, keine Ordnung habe, dann kann ich nicht richtig aufmachen, kann ich meine Stimme nicht richtig zum Klingen bringen.

Singen soll das Immunsystem stärken, man sei weniger gestresst und lebe glücklicher. Demnach sind Sie nie krank?

Wenn ich zu wenig singe, verkümmere ich seelisch. Im vergangenen Jahr war ich oft gestresst und auch öfter mal erkältet. Da spürte ich, ich muss dem Singen in meinem Leben wieder mehr Platz geben. Schweren Herzens kündigte ich deshalb meinen Job als Intendantin der KlangWelt Toggenburg. Heute bin ich dankbar und glücklich darüber, dass ich mich wieder mehr dem Singen widmen kann.

«L'oreille est le chemin du cœur», lautet ein französisches Sprichwort – «Das Ohr ist der Weg zum Herzen». Kaum etwas nimmt uns auf Anhieb so gefangen wie eine warme Stimme.

Ein Umstand, der physikalisch erklärbar ist: Der Klang unserer Stimme setzt sich aus sogenannten Obertönen zusammen. Je nach Verteilung der Obertöne empfinden wir eine Stimme als angenehm warm oder als unangenehm schrill. Beim Jodeln trainieren wir, dass wir möglichst viele dieser Obertöne erreichen können. Obertöne sind Schwingungen und können Materie in Schwingungen versetzen, also auch den menschlichen Körper. Es ist also eine Verständigung auf einer anderen Ebene, als wenn wir etwas mit unseren Augen oder unserem Gehör wahrnehmen.

Wann hat Sie das Jodeln gefangen genommen?

Vermutlich als Baby. Mein Vater ist Appenzeller. Mit seinen Brüdern machte er jeweils am Silvesterchlausen in Herisau mit. Kaum war ich auf der Welt, nahm mich meine Mutter im Kinderwagen zum Zuschauen und Zuhören mit. Als ich Jahre später wieder einmal das Silvesterchlausen besuchte, hatte ich ein Déjà-vu.

Nadja Räss: «Ich jodle auch gerne im Alpstein in den Felsen, wenn ich am Wandern bin. Aber ich will niemanden stören und deshalb mache ich das nur, wenn wenige Leute unterwegs sind.»
Nadja Räss: «Ich jodle auch gerne im Alpstein in den Felsen, wenn ich am Wandern bin. Aber ich will niemanden stören und deshalb mache ich das nur, wenn wenige Leute unterwegs sind.»
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Wann kam die Erkenntnis: Das kann ich?

Die kommt vielleicht noch irgendwann (lacht). Mittlerweile sind das Jodeln und das Singen ein Teil von mir, ich habe es verinnerlicht. Gleichzeitig sehe ich aber noch viel Potential, um meine Stimme weiterzuentwickeln. Ich habe deshalb überlegt, ob ich nochmals ein Studium machen soll. Bis ich realisierte, es sind verschiedene Sängerinnen und Sänger, die mich faszinieren und von denen ich lernen möchte.

Wenn haben Sie schon besucht?

Einmal war ich bei Andreas Schaerer, der ebenfalls im Film «Der Klang der Stimme» zu sehen ist. Der Berner Musiker experimentiert mit seiner Stimme, um immer wieder neue Klänge zu finden. Und ich werde zu Nataša Mirković gehen. Die Sängerin kommt ursprünglich aus Bosnien-Herzegowina, lebt heute aber in Wien. Sie singt klassische Schubert-Lieder aber auch archaische Lieder aus dem Balkan. Um dies zu können, hat sie eine universelle Gesangstechnik entwickelt, die ich gerne lernen möchte. Denn das ist auch beim Jodeln ein Thema: Wie kann ich meine Stimme archaisch brauchen und gleichzeitig eine gute Technik haben.

Star-Tenor Enrico Caruso soll vor Auftritten erst einmal eine Zigarette geraucht haben. Danach spülte er den Mund mit Salzwasser aus. Er nahm eine Prise Schnupftabak, trank ein Weinglas voll Whisky, dann ein Glas Sprudel. Zum Abschluss ass er einen Apfelschnitz. Wie bereiten Sie Ihre Stimme vor?

Natürlich habe ich meine Einsing-Übungen. Aber viel wichtiger ist, dass ich vor dem Konzert keinen Stress habe. Der Idealfall ist, dass ich den ganzen Tag nichts tun muss. Früher habe ich vor Konzerten öfters einen Büro-Tag eingeschaltet oder manchmal noch bis kurz vor dem Konzert  unterrichtet. Das mache ich nicht mehr. Ich weiss, dass tönt jetzt vielleicht esoterisch, aber wenn ich in meiner Mitte, ruhig und zufrieden bin, dann ist das Einsingen fast sekundär, weil ich so entspannt bin.

Macht Sie das Jodeln manchmal auch wütend?

Ich bin selten wütend, doch etwas was mich traurig macht, ist die Intoleranz, welche einige Jodler an den Tag legen. Wenn es heisst, Jodeln müsse so und so tönen, obwohl es eine unglaublich klangvielfältige Singart ist. Ich bin der Meinung, dass jeder sagen darf, wenn ihm etwas nicht gefällt. Aber ich mag es nicht, wenn eine Doktrin daraus gemacht wird. Mir gefällt die Vermischung von Jodelmusik mit dem Pop-Genre auch nicht besonders. Aber diese Art von Musik hat genauso ihre Berechtigung.

Wo Jodeln Sie am liebsten?

An Orten, wo es schön klingt. Letztes Jahr durfte ich während einer Kantate in der Klosterkirche Einsiedeln mitjodeln. Das war unglaublich schön. Auch in der Hofkirche Luzern klingt es wunderbar. Als Kind übte ich oft in der Kirche, weil unsere Familie grad neben einer wohnte. Ich jodle auch gerne im Alpstein in den Felsen, wenn ich am Wandern bin. Aber ich will niemanden stören und deshalb mache ich das nur, wenn wenige Leute unterwegs sind.

Wirklich wahr, dass Sie auch schon im Petersdom im Vatikan gejodelt haben?

Ja. Ein eindrückliches Erlebnis. Es war, als würde ich im Klang baden.

Wie kam es dazu?

Ich war während der Gymizeit Ministrantin. Mit Pater Martin Werlen vom Kloster Einsiedeln besuchten wir Rom. Und wir feierten im Petersdom einen Gottesdienst, währenddessen ich jodelte. Plötzlich kam ein Kardinal und meinte, ich müsste sofort aufhören.

Warum?

Frauen dürfen im Petersdom nicht solistisch auftreten. Pater Martin hatte jedoch extra eine Bewilligung für unseren Gottesdienst eingeholt. Und ich durfte weiterjodeln.

Leistungssportler reden von der Automatisierung der Bewegungsabläufe, damit der Kopf für Überraschungen und strategisch Wichtiges frei wird.

Für uns Jodler gilt das auch. Ich sage meinen Schülern oft: Wir sind wie Sportler, wir trainieren Zunge, Kiefer und Lippe, aber auch die Atemmuskulatur. Das sind unsere Müskeli. Durch diese Automatisierung erreichen wir Freiheit und können uns besser ausdrücken. Einmal war ich während eines Konzertes total erkältet. An diesem Abend musste ich mich derart stark auf meine Müskeli konzentrieren, dass ich am anderen Tag neben der Erkältung auch noch Muskelkater hatte.

Für den Kinofilm «Der Klang der Stimme» machten Sie ein Magnetresonanztomographie  (MRI), während dem Sie jodelten.

Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas gemacht habe. Ich habe früher schon solche Untersuchungen machen lassen, weil immer wieder behauptet wird, Jodeln mache die Stimme kaputt. Mittlerweile kann ich belegen: Das stimmt nicht, es ist vielmehr eine Frage der Technik. Angenehm ist so eine MRI-Untersuchung nicht, aber ich finde es spannend, Teil dieser Forschung zu sein.

Matthias Echternach forscht mit wissenschaftlichen Methoden nach dem Geheimnis der Stimme. Welche neuen Erkenntnisse brachte Ihnen das MRI über das Jodeln?

Es gibt eine Szene im Film, während der sich meine Zunge extrem schnell hin und her bewegt. Zu sehen, dass sich nur die Spitze bewegt und der Rest der Zunge total locker bleibt, war eine wichtige Erkenntnis für mich.

Die Berliner Stimmtrainerin und Sängerin Doreen Kutzke sagt: «Wer Jodeln kann, kann meist auch angstfrei Vorträge halten. Denn wer den Salto beherrscht, braucht sich ja auch nicht mehr vor einem Purzelbaum zu fürchten.»

Das stimmt, es hat mir noch nie etwas ausgemacht, vor einer Gruppe zu reden.

Wahr, dass der Klang unserer Stimme für die Mitmenschen informativer als unser Gesicht ist.

Wer spricht, kann kaum verheimlichen, wie es ihm geht. Bei guten Freundinnen und Freunden höre ich sofort am Klang ihrer Stimme, ob es in ihrem Leben Schwierigkeiten gibt.

Und bei unbekannte Menschen?

Wenn mich eine Stimme berührt, ist das ein guter Start für ein Gespräch. Finde ich eine Stimme unangenehm, geigt es sehr oft auch im zwischenmenschlichen Bereich nicht.

Wie klingt meine Stimme?

Gut – andernfalls wäre ich wieder gegangen (lacht).

Würden Sie das Jodeln als Heimat bezeichnen?

Es ist mehr als Heimat, Jodeln ist meine Muttersprache.

Wenn die Schweiz ein Lied wäre, wie würde Sie tönen?

Melancholisch – aber nicht etwa, weil ich unser Land als traurig erlebe, sondern weil mich Melancholie berührt.

Stimme und Stimmung sind eng miteinander verknüpft. Welche Gedanken kommen Ihnen, wenn Sie die Schweizer Landeshymne hören?

Ich würde, ehrlich gesagt, eine Hymne ohne Text vorziehen. Und wahrscheinlich gäbe es auch Melodien, die besser zur Schweiz passen. Aber man kann über unseren Schweizerpsalm sagen, was man will: Er ist seit Jahrzehnten unsere Landeshymne und deshalb würde ich nichts ändern. Wenn ich sie allerdings vortragen müsste, würde ich sie jodeln statt Text singen.


Zur Person: Nadja Räss

Nadja Räss, geboren 1979, wuchs in Einsiedeln auf. Sie jodelt seit ihrem siebten Lebensjahr und ist diplomierte Gesangslehrerin. Sie interpretiert eigene Kompositionen sowie Stücke anderer Komponisten, singt historische Naturjodel und sucht begeistert nach ähnlich urtümlichen Gesangsformen aus der gesamten Welt. Räss präsentiert ihre Vielseitigkeit regelmässig in Konzerten. Dabei ist sie nicht nur als Solo-Künstlerin unterwegs. Zuweilen steht sie mit vielen namhaften Künstlern im In- und Ausland auf der Bühne: mit  Markus Flückiger, Willi Valotti, dem Organisten Wolfgang Sieber oder den Alderbuebe. Ab Herbst 2018 ist sie  an der Hochschule Luzern Dozentin für das neue Hauptfach «Jodel» und für den Studienschwerpunkt Volksmusik verantwortlich.

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