Schottisches Tal Glen Affric – wie aus einer anderen Welt

Florian Sanktjohanser, dpa

6.9.2020

Wer Ungeheuerliches geboten bekommen möchte, ist am Loch Ness besser aufgehoben. Glen Affric hingegen umgibt etwas Mystisches – obwohl man sich hier eher auf dem afrikanischen Kontinent wähnt, zumindest auf den ersten Blick. 

Ortsnamen können in die Irre führen. Vor allem, wenn sie so gut passen wie Glen Affric. Wandert man hinein in dieses Tal, das einige für das schönste in Schottland halten, denkt man sofort: Klar, das afrikanische Tal.

Wie die Savanne der Serengeti wellen sich die Heidehügel. Die Kaledonischen Kiefern mimen mit ihren ausladenden Ästen überzeugend Schirmakazien. Dazu in der Mitte ein langgezogener See vor steilen Berghängen – die Miniaturversion des ostafrikanischen Grabenbruchs.

Tatsächlich bedeutet der gälische Name Glen Affric «gesprenkeltes Tal». Das passt auch. Denn bei genauerem Hinsehen sind die breitschultrigen Berge in braun-grünes Tarnfleck gekleidet, die Moospolster changieren von Lindgrün über Orange bis Blutrot, und der Ginster am Wegesrand tupft leuchtendes Gelb in das Gemälde.

Mehr Gäste dank eines Fernwanderweges

Trotz dieser Anmut haben viele Schottlandreisende noch nie vom Glen Affric gehört. «Unsere Gegend wird immer noch übersehen», sagt der Wanderführer Rule Anderson. «Viele fahren nur durch.» Gleich nebenan liegen weitaus berühmtere Ziele, Loch Ness und das Eilean Donan Castle, bekannt aus Filmen wie «Highlander» und «James Bond».

Auch Traumgipfel, die Bergsteiger locken, gebe es hier nicht, so Anderson. Er müsste sie kennen. Von den 282 Munros, wie die Schotten ihre Berge über 3'000 Fuss Höhe (914,4 Meter) nennen, hat er schon 180 bestiegen.

Mangels berühmter Gipfel setzt die Gemeinde Cannich am Taleingang auf ein Konzept, das gerade in ganz Europa en vogue ist: Sie hat einen Fernwanderweg ausgeschildert. Affric Kintail Way ist in die hölzernen Wegweiser geschnitzt, die seit 2015 an dem Kiesweg entlang der Südufer der beiden Seen stehen.

Glen Affric hingegen umgibt etwas Mystisches – obwohl man sich hier eher auf dem afrikanischen Kontinent wähnt, zumindest auf den ersten Blick.
Glen Affric hingegen umgibt etwas Mystisches – obwohl man sich hier eher auf dem afrikanischen Kontinent wähnt, zumindest auf den ersten Blick.
Bild: Getty Images

«Die Wegweiser wurden kontrovers diskutiert», sagt Anderson. «Die meisten einheimischen Wanderer waren dagegen.» Sie wollen die Berge möglichst frei von allem Menschengemachten halten. Viele lehnen selbst Farbkleckse oder Steinhaufen als Markierungen ab.

Am Ende setzte sich die Gemeinde durch, die mehr ausländische Wanderer anlocken wollte. Sie behielt recht: Die Zahl der Wanderer im Tal hat seitdem stark zugenommen. «Auf der Insel Skye sind aber immer noch zehnmal so viele Leute unterwegs», sagt Anderson.

Abstecher zu spektakulären Wasserfällen

Der Affric Kintail Way windet sich 71 Kilometer durch die Hügel, von Drumnadrochit am Loch Ness bis nach Morvich am Loch Duich. Die erste Etappe bis Cannich kann man sich derzeit noch getrost sparen, kilometerweit ginge man hier auf einer Teerstrasse. Bald soll ein naturnaher Wanderpfad angelegt werden, weg vom Ausflugsverkehr. Bis dahin fährt man besser im Mietwagen bis Cannich.

So kann man auch vor dem Start der Wanderung noch einen Abstecher zu den sehenswerten Plodda Falls machen. Ein kurzer Waldweg führt vom Parkplatz hinab zu einer Treppe von Kaskaden, eingefasst von Birken und Fichten, tropfenden Moosen und Farnen. Der eigentliche Wasserfall stürzt ein paar Schritte weiter unter einer Holzplattform eine Felswand hinab. Aus luftiger Höhe schaut man hinunter auf den Schwall und das schäumende Wasser, das sich mit einer zweiten Kaskade vereinigt und eine scharfe Schleife um eine Felsnase schneidet.

Ein schöner Nebeneffekt des Abstechers ist, dass man dabei durch das Bilderbuchdorf Tomich fährt. Die Hälfte der denkmalgeschützten Steinhäuser sind heute Ferienwohnungen, allesamt adrett und gepflegt. Das Schloss ausserhalb des Dorfs dagegen verfällt.

Wild anmutend und doch von Menschenhand geformt

Aber zurück nach Cannich. Als man gerade ein paar Kilometer durch eine frühere Plantage von Douglasien und Sitka-Fichten gelaufen ist, lauert schon die nächste Ablenkung: der Rundweg um die Dog Falls. Die Kaskaden in einer Schlucht sind weit weniger beeindruckend als die Plodda Falls, aber der Pfad führt vorbei an blühenden Hasenglöckchen und Ginster zu einem schönen Aussichtspunkt.

Von nun an wandert man entlang des Loch Beinn a' Mheadhoin. Eine fast kanadische Wildnis, könnte man meinen, mit Kiesstränden und bewaldeten Inselchen – hätte man nicht bereits das Wasserkraftwerk an der Strasse gesehen. Tatsächlich ist der See aufgestaut, genauso wie der Loch Affric, der aber zumindest vorher schon ein See war.

Wer Filme wie «Braveheart» gesehen hat, nimmt fast wie selbstverständlich an, dass die Berge Schottlands von Natur aus karg und öde sind. Die Römer aber nannten das Land Caledonia: bewaldete Höhen. Als ihre Legionen hier ankamen, bedeckte ein Urwald aus Eichen, Erlen, Birken und Kiefern die weiten Hügel.

In Jahrhunderten des Raubbaus rodeten die Menschen den Wald. Sie legten Felder an, bauten Schiffe, verfeuerten das Holz in Hochöfen. Schafherden frassen die Triebe junger Bäume, bis nur noch die Strauchheide blieb. Nur in winzigen Ecken konnte sich der alte Wald halten. Die vielleicht schönste ist das Glen Affric.

Ein bedrohter Wald

Gleich neben dem Weg wachsen die Kaledonischen Kiefern. Ihre Rinde ist ein grauer Schuppenpanzer, ihre rotbraunen Äste winden sich wie hundert Schlangenarme. Die für die Highlands typischen Bäume sind selten geworden. Waldbauern pflanzen lieber schnell wachsende Fichten. Und die Hirsche sind ohne natürliche Feinde zur Landplage geworden und fressen das ab, was die Schafe übrig lassen.

Damit sich der Kaledonische Wald erholen kann, sind die meisten verbliebenen Kiefern eingezäunt. Zusätzlich werden in dem Naturreservat seit 25 Jahren Bäume gepflanzt. Die hellgrünen Rechtecke der jungen Birken heben sich von den braunen Hängen ab, die aussehen wie zerfurchte, narbige Rücken von Riesenechsen.

Versunken in die Betrachtung der schönen Ödnis wandert man dahin, einige junge Paare kommen entgegen, Rentner mit Hunden überholen. Ab dem Westende des Sees aber geht man meist allein.

Der Weg wird nun schmaler, immer öfter muss man über Pfützen hüpfen oder überflutete Stellen umgehen. Von hinten schieben sich derweil dunkle Wolkentürme heran. Aus dem Spazieren wird zügiges Gehen und schliesslich Traben. Gerade, als man das rettende «Alltbeithe Youth Hostel» erreicht, prasselt der Regen los.

Schottische Gemütlichkeit

In der Wohnküche und im Nebenzimmer sind alle Tische besetzt, im Kamin brennt ein Feuer. Graham Cormie strahlt, als sei man der Ehrengast, auf den er gewartet hat. Der Hüttenwart hilft gerade für eine Woche aus. Was ihm furchtbar leidtue, sagt er, denn die eigentliche Hüttenwartin Hannah backe fantastische Scones. «Und ich habe immer noch keinen Backkurs gemacht.»

Dafür hat Cormie beste Laune. Er führt durchs Haus, erklärt, dass Solarpaneele und das Windrad hinterm Haus den Strom für die Lampen erzeugen, dass mit Kohle und Holz geheizt wird – und dass es eine heisse Dusche gibt.

So viel Luxus hätte man nicht erwartet in der wohl abgelegensten Jugendherberge Schottlands. «Es gibt nicht mehr viele Hostels, die so ursprünglich sind», sagt Cormie. Er kennt sie alle, als Springer hilft er aus, wenn irgendwo ein Hüttenwart ausfällt. Ist das hier seine liebste Hütte? «Das darf ich so nicht sagen.»

Ausgangspunkt für Vogelbeobachter

Viele der Gäste kommen hierher, um Munros zu besteigen. Nahe der Hütte erheben sich neun dieser Berge. Dazu kommen nun Fernwanderer. Und Vogelbeobachter wie die vier älteren Herren am Nebentisch, die erzählen, dass sie mit dem Fernglas heute drei Steinadler gesehen hätten. Handyempfang scheint keiner zu vermissen bei der Abendunterhaltung: Als der Regen nachlässt, trotten drei Hirsche herbei und grasen seelenruhig einen Steinwurf von der Hütte entfernt. Sie wissen offenbar, dass sie hier keinen Jäger mehr fürchten müssen.

Die Nacht im Schlafsaal ist erstaunlich ruhig, am Morgen scheint die Sonne. Der Bach glitzert wie flüssiges Silber, sanfter Wind lässt die goldenen Spitzen der Grasbüschel zittern. Dazwischen setzt das Wollgras weisse Tupfer. Aus allen Richtungen zwitschert und trällert es, irgendwo weiter oben ruft pausenlos ein Kuckuck.

Das grosse Finale

Mit deutlich mehr Musse als am Vorabend wandert man durch das weite Tal. Und entscheidet sich, vor der Strawberry Cottage links auf die Nordroute um den Loch Affric abzuzweigen.

Der Pfad hier ist schmaler und weniger komfortabel als der Weg am Südufer. Auf halber Höhe zwischen See und Gipfeln wandert man dahin, zuerst über offene Heide, dann mitten durch ein Kiefernwäldchen. Von den Bergen rauschen Wasserfälle herab, immer wieder muss man über Bäche springen, einmal auf Steinen übers Wasser balancieren.

«Nach schweren Regenfällen mussten wir schon ausrücken und Leuten über die Bäche helfen», sagt Anderson. Manchmal sei der Pfad unpassierbar. Zum Glück nicht an diesem Tag. Denn unter all den Ausblicken über den Loch Affric und die gesprenkelte Savanne ist dieser wohl der erhabenste.

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