Fehde mit dem Innenminister Mafiaboss hält Türkei in Atem

Von Mirjam Schmitt und Linda Say, dpa

26.5.2021 - 21:38

Drogenhandel, ungeklärte Mordfälle – ein flüchtiger Mafiaboss verbreitet auf Youtube immer wieder brisantes Material. Bringt der Pate den türkischen Präsidenten Erdogan in Bedrängnis?

26.5.2021 - 21:38

Der Mafiaboss sitzt im Konferenzraum eines Hotels, sein schwarzes Hemd ist aufgeknöpft, eine Goldkette schimmert vor seiner Brust. Millionen Türken schauen gebannt auf diesen Mann, wenn er wieder ein neues Youtube-Video veröffentlicht.

Sedat Peker, vorbestraft wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und im Exil in Dubai vermutet, hat seit Anfang Mai sieben Videos – oder «Folgen», wie er sie nennt – veröffentlicht. Darin erhebt er schwere Vorwürfe gegen das Umfeld des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er unterstellt Politikern und ihren Verwandten Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Es geht etwa um angeblichen Drogenhandel und ungeklärte Morde.

Peker ist eine schillernde Figur und trat in der Vergangenheit als besonders martialischer Unterstützer Erdogans auf. Im Jahr 2016 drohte er etwa regierungskritischen Akademikern, er werde in ihrem Blut baden. Erdogan selbst hat Peker in seinen Videos bislang nicht angegriffen, er nennt ihn sogar «Tayyip abi» – seinen «Bruder». Die Veröffentlichungen, so sehen es Beobachter, deuten auf innenpolitische Machtkämpfe hin, sie werden aber auch zunehmend zu einem Problem für den Präsidenten.

Verwicklungen in den internationalen Drogenschmuggel 

Seine Hauptangriffe richtet Peker gegen Innenminister Süleyman Soylu, den er spöttisch den «schmucken Süleyman» oder «Sülo» nennt – und gegen Mehmet Agar, der in den 90er Jahren zuerst Polizeichef und dann Innenminister war und der Regierung nahesteht. «Mit einem Stativ und einer Kamera werdet ihr besiegt werden», verkündet Peker grossspurig.

Besonders explosive Anschuldigungen erhob Peker in seinem siebten Video vom Sonntag. Darin warf er dem Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und Erdogan-Vertrauten Binali Yildirim Verwicklungen in den internationalen Drogenschmuggel vor – der Ex-Premier wies das entschieden zurück. Dem früheren Innenminister Agar unterstellte Peker, in die bis heute ungeklärten Morde an dem türkischen Journalisten Ugur Mumcu und dem türkisch-zypriotischen Autor Kutlu Adali in den 90er Jahren verwickelt zu sein.

Die Vorwürfe Pekers wecken in der türkischen Bevölkerung Erinnerungen an den sogenannten Susurluk-Skandal und den «tiefen Staat»: In Folge eines Verkehrsunfalls waren 1996 Verbindungen zwischen dem rechtsextremen Untergrund und dem Staatsapparat bekannt geworden. Bei dem Unfall in der Nähe der Stadt Susurluk waren ein hoher Polizeibeamter und ein unter Mordverdacht stehender türkischer Rechtsextremer ums Leben gekommen. Agar trat damals wegen mutmasslicher Verwicklung in den Skandal vom Amt des Innenministers zurück.

Erdogan hielt sich lange zurück, stellte sich am Mittwoch dann aber deutlich hinter seinen Innenminister und verteidigte auch den Ex-Premier. Man stehe auf Soylus Seite und werde es auch bleiben, sagte Erdogan. Soylu, der im Publikum sass, nickte dem Präsidenten daraufhin zu. Erdogan betonte erneut, dass seine Regierung, die seit 2002 an der Macht ist, schon in der Vergangenheit erfolgreich gegen organisierte Kriminalität und Drogenschmuggel vorgegangen sei. Tatsächlich griffen die Behörden im April auch gegen mutmassliche Mitglieder der Bande Pekers durch.

Erdogans Umfragewerte im Sinkflug

Der Mafiaboss suggeriert nun mit seinen Aussagen, dass die Verquickung von Unterwelt und Politik nach wie vor existiere. Innenminister Soylu habe ihn lange geschützt und auch vor Ermittlungen gewarnt, erzählt Peker etwa. Nicht zuletzt habe er sich auf Soylus Tipp hin ins Ausland abgesetzt. Im vergangenen Jahr habe er zudem eine Twitter-Kampagne unterstützt, die Soylu mit Fake-Accounts initiiert habe, um sich im Amt zu halten. Damals hatte Soylu wegen Chaos um eine Corona-Ausgangssperre zwar seinen Rücktritt verkündet, nach Protesten auf Twitter lehnte Erdogan das Gesuch aber ab – und Soylu blieb im Amt. Der Innenminister reagierte mit drastischen Worten. Er wies Pekers Vorwürfe allesamt zurück – und nannte ihn einen «Mafia-Dreckskerl».

Die Peker-Videos kommen für Erdogan zu ungünstigen Zeitpunkt. Seine Umfragewerte sind angesichts hoher Arbeitslosigkeit und Rekordinflation ohnehin im Sinkflug. Schon jetzt hat Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP ohne die Unterstützung der ultranationalistischen MHP keine Mehrheit im Parlament. Soylu wiederum ist bei deren Wählern beliebt und geniesst die Unterstützung von MHP-Chef Devlet Bahceli, der sich am Dienstag demonstrativ hinter ihn stellte.

Soylu selbst verteidigt sich derweil in Fernsehinterviews. Er denke nicht an Rücktritt, sagte er am Sonntag, überzeugende Antworten blieb er aber schuldig. Dafür sorgte er mit einem wenig geglückten Vergleich für massive Irritation bei seinen Zuschauern. Auf den Hinweis eines Interviewers, dass Pekers Videos immerhin von Millionen Türken verfolgt würden, entgegnete Soylu: «Millionen Menschen schauen sich auch Kinderpornografie an.»

Auffällig ist, dass die Regierung Pekers Videos bislang nicht gesperrt hat, obwohl sie in der Regel mit teils harter Hand gegen regierungskritische Äusserungen vorgeht. Einige Beobachter sind daher der Ansicht, dass es dem Staatschef bislang gar nicht so Unrecht war, dass Soylu demontiert wurde. Immerhin wurde der Minister schon als Erdogans Nachfolger gehandelt.

Wer neben Erdogan an Popularität gewinne, gehe früher oder später wieder unter, schreibt der prominente Kolumnist Murat Yetkin. Auch Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci-Universität, vermutet bei Erdogan Interesse an einem geschwächten Soylu, damit dieser keine unabhängige politische Karriere anstrebe. Dass die Regierungspartei zwischen Anhängern Soylus und dem Lager von Erdogans Sohn – dem ehemaligen Finanzminister – gespalten ist, ist inzwischen ein offenes Geheimnis. Die Videos brächten Erdogan jedenfalls in Verlegenheit und schwächten ihn, meint Esen. Immerhin befinde sich sein Innenminister in einer Fehde mit einem Mafiaboss.

Von Mirjam Schmitt und Linda Say, dpa