Grossbritannien 39 Tote im Lkw: Grausames Ende des Geschäfts mit der Hoffnung

SDA

11.1.2021 - 10:29

ARCHIV - Polizisten und Mitarbeiter der Spurensicherung arbeiten an dem LKW, in dem 39 Leichen gefunden wurden. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire/dpa
ARCHIV - Polizisten und Mitarbeiter der Spurensicherung arbeiten an dem LKW, in dem 39 Leichen gefunden wurden. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire/dpa
Keystone

Es sind Mitteilungen voller Angst und Todesahnung. «Hier ist Tuan. Es tut mir leid, ich kann mich nicht um Euch kümmern.» Mit letzter Kraft spricht ein Mann eine Sprachnachricht an seine Familie ein. «Ich kann nicht atmen», sagt er da, wie britische Medien berichten.

Und verabschiedet sich: «Habt ein schönes Leben.» Dabei war Tuan voller Hoffnung aufgebrochen: In Grossbritannien wollte der Mann Arbeit finden, dem Leben als Bauer in Vietnam entfliehen und seiner Familie Geld senden. Nun ist er tot, ebenso wie Dutzende andere Migranten, die illegal ins Land zu kommen versuchten. 39 Menschen, darunter Teenager, sind in einem Lastwagen erstickt.

Eindrücklich hat der Prozess, der voraussichtlich am Montag in London endet, gezeigt, wie ausgeklügelt und perfide die Menschenschmuggler zu Werke gehen – und zu welchem Preis. Auf der Anklagebank: Mitglieder einer Schleuserbande. Ihr Anführer, ein 41-Jähriger, soll mit dem Migrantenschmuggel Millionen verdient haben. Das Gericht sprach ihn bereits des Totschlags und Menschenhandels schuldig, ihm droht wie dem Fahrer des Lastwagens lebenslange Haft. Insgesamt stehen acht Mitglieder der Bande vor Gericht.

Der Fall erinnert an die Tragödie von 2015, als in Österreich nahe der Grenze zu Ungarn ein Kühllaster mit den Leichen von 71 erstickten Menschen, unter ihnen vier Kinder, entdeckt wurde.

Als «VIP-Route» hatten die Schmuggler zynisch ihr Angebot beworben, in Lastwagen über den Ärmelkanal zu setzen. Dafür müssen die Migranten viel Geld zahlen. Zunächst 10 000, später 13 000 Pfund (fast 15 000 Euro) kassieren die Schleuser pro Person, je 1500 Pfund soll der Fahrer erhalten. Es ist nicht der erste Trip.

Der Ablauf: Minutiös geplant, wie der Prozess offenbart, immer wieder fangen Überwachungskameras die Fahrt ein. Sammelpunkt im nordfranzösischen Bierne am 22. Oktober 2019, Abfahrt mit einem Lastwagen um 10.40 Uhr (britischer Zeit), Grenzübergang nach Belgien um 11.30 Uhr, Einschiffung im Hafen Zeebrugge um 14.52 Uhr. Um 15.36 Uhr verlässt der versiegelte Container mit 39 Menschen an Bord der «MV Clementine» das Festland.

Im Inneren muss die Lage für die Vietnamesen bereits jetzt kaum auszuhalten gewesen sein. Lag die Temperatur eingangs noch bei 21,5 Grad Celsius, ist sie bei der Abfahrt des Schiffs schon auf 30 Grad gestiegen – und klettert weiter. Um 19 Uhr sind es bereits 35,5 Grad, wie Experten in einer Simulation herausgefunden haben. Am Ende werden es 38 Grad sein.

Verzweifelt versuchen die Insassen, ihre Familien oder die Polizei in Vietnam zu erreichen. «Es tut mir leid, ich muss Euch verlassen», ist auf einer Videodatei eines der Opfer zu hören. Als das Schiff nach Mitternacht den Hafen von Purfleet östlich von London an der Themse erreicht und der neue Fahrer die Türen öffnet, sind bereits alle tot.

39 Leichen. Das sind 39 Schicksale, 39 Individuen. Einiges aber ähnelt sich im Lebenslauf, wie die vor Gericht verlesenen Aussagen der Angehörigen in Vietnam deutlich machen. Alle Opfer wollen mehr Geld verdienen als in der Heimat, hoffen auf gutes Geld in Grossbritannien, als Maurer, Kellner oder im Nagelstudio. Einige hatten ihr Glück zuvor in Deutschland versucht – vergebens, sie finden keine Arbeit und ziehen weiter.

Schon der Flug von Vietnam nach Westen, mal nach Rumänien, mal nach Moskau, war teuer. Nun bieten Schleuser eine angeblich sichere Weiterfahrt. Doch das kostet erneut. Die Familien in der Heimat leihen sich Geld, verschulden sich in der Hoffnung, der einzige Ernährer werde ein Vielfaches verdienen. Nun stehen sie vor einer unsicheren Zukunft – ohne Tochter, Mann oder Sohn. Und mit hohen Schulden.

Auch deshalb geht der Prozess in London weit über den Gerichtssaal hinaus. Tausende Kilometer entfernt warten die Angehörigen auf den Richterspruch – wohl auch in der Hoffnung auf etwas Gerechtigkeit. Doch gilt es bei Experten als schmerzhafte Gewissheit, dass selbst das härteste Urteil viele Arbeitsmigranten nicht von der gefahrvollen Reise abhalten wird.

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