Cherson im Visier Sechs Punkte, die für eine starke Offensive der Ukraine sprechen

Von Philipp Dahm

7.8.2022

Holzöfen für Schützengräben: Ukrainischer Schmied sattelt um

Holzöfen für Schützengräben: Ukrainischer Schmied sattelt um

Vor der russischen Invasion in der Ukraine baute Anton Saika Möbel in seiner Werkstatt – jetzt hilft der Schmied bei der Landesverteidigung mit und schweisst unter anderem Holzöfen für Soldaten in Schützengräben zusammen.

05.08.2022

Die ukrainische Armee will im Oblast Cherson erstmals offensiv werden. Die Vorzeichen sind gut: Der Waffen-Fluss aus dem Westen hält an, die neue Taktik ist erfolgreich und auch die Truppenstärke steigt.

Von Philipp Dahm

7.8.2022

Die Ukraine glaubt, dass Russland Soldaten zusammenzieht, um Krywyj Rih im Oblast Dnipropetrowsk anzugreifen. Sollte das stimmen, könnte Moskau endlich mal wieder einen Propaganda-Erfolg vorweisen: In der Grossstadt wurde Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj geboren.

Krywyj Rih liegt gut 50 Kilometer südlich der südlichen Frontlinie, doch die Entfernung könnte in den kommenden Tagen zunehmen, weil die ukrainische Armee vor Cherson erstmals in die Offensive geht. Daumen drückt ihnen die Nato: Am 4. August drängte ihr Generalsekretär in Norwegen darauf, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen dürfe.

«Es ist in unserem Interesse, dass diese Art von aggressiver Politik keinen Erfolg hat», betonte Jens Stoltenberg mit Blick auf «die gefährlichste Situation in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg». Der Angriff gelte nicht nur der Ukraine, sondern richte sich auch gegen «unsere Werte und die Weltordnung, die wir wollen». Von daher wird es Stoltenberg freuen, dass das Momentum gerade aufseiten Kiews ist.

Warum das so ist und was für eine erfolgreiche ukrainische Offensive im Oblast Cherson spricht, sei hier in sechs Punkten erklärt.

Waffen

Die Militärhilfe für die Ukraine ebbt nicht ab. Nachdem Polen das Nachbarland mit einer hohen Anzahl des Panzers PT-91 Twardy versorgt hat, sind Anfang August circa 30 T-72 von Nordmazedonien gen Kiew geschickt worden. Angeblich soll Nordmazedonien der Ukraine auch vier Su-25 Erdkampf-Flugzeuge überlassen haben. Aus Norwegen sind 14 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Iveco LAV III gekommen.

Deutschland stockt seine Lieferungen an die Ukraine gewaltig auf. Kiew kauft Berlin 100 Panzerhaubitzen 2'000 für 1,7 Milliarden Euro ab, die zu den neun bereits gelieferten Exemplaren hinzukommen. Der Export von 30 Gepard-Panzern ist genehmigt, und ausserdem sollen 16 Brückenlege-Panzer vom Typ Biber geliefert werden. Nicht zuletzt freut sich der ukrainische Verteidigungsminister über das Eintreffen von MLRS-Raketenwerfern, die das gleiche Potenzial wie die Himars haben.

Apropos: Am ersten August sind aus den USA vier weitere Himars eingetroffen – und vor allem versorgt Uncle Sam Kiew auch mit der dringend benötigten Munition: 75'000 Schuss 155-Millimeter-Munition und weitere Himars-Raketen wurden zuletzt zugesagt. Gerade mit Blick auf diesen Nachschub versicherte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 4. August, man arbeite eng mit der Rüstungsindustrie zusammen, um auf lange Sicht die Versorgung der Ukraine sicherzustellen.

Taktik

Während Russland etwa in der Schlacht um den Donbass Artillerie vor allem en masse eingesetzt hat, nutzen die Verteidiger ihre neuen Waffen aus dem Westen für die Shoot-and-scoot-Taktik – also schiessen und abhauen. Der Artilleriebeschuss hinterlässt eine Spur, mit der die Geschütze per Radar leicht auszumachen sind und unter Gegenfeuer genommen werden können. Deshalb werden Ziele gezielt ausgesucht und angegriffen, um sich umgehend zurückzuziehen.

Nachdem die Ukraine so diverse russische Munitionslager zerstört hat, schiesst Moskaus Artillerie nun deutlich seltener nach Westen. Wie erfolgreich diese Taktik ist, suggeriert die Meldung von brennenden Munitionszügen: Bereits zweimal sollen sich diese versehentlich entzündet haben, als Rauchgranaten, die etwaige Himars-Raketen ablenken sollten, Feuer ausgelöst haben.

Abfangen konnte Moskau die Raketen bisher nicht – und die Ukrainer machen es den Angreifern schwer, indem sie in der Nähe der Himars billige Raketen-Artillerie abfeuern, um genaues Gegenfeuer zu erschweren. In den USA werden derweil Stimmen lauter, die Kiew auch mit Langstreckenraketen versorgen wollen: Die ATACMS kann Ziele in 300 Kilometer Entfernung treffen.

Verschleiss

Mit Blick auf den Nachschub sind nicht nur neue Waffen wichtig, sondern auch Ersatzteile. Was passiert, wenn Artilleristen ihr Gerät nicht pflegen wollen oder können, sieht man im unten stehenden Bild, das eine D20, ein 152-Millimeter-Geschütz zeigt, dessen Rohr geplatzt ist.

Bulgarianmilitary.com

Inzwischen existieren mehrere Fotos von geplatzten Kanonen – darunter auch die riesige 2S7M Malka mit einem Kaliber von 203 Millimeter. Laut Experten hat das Rohr einer 150-Millimeter-Kanone eine Lebensdauer von 1'500 Schuss. Bei extrem hohem Beschuss könnte bereits nach zwei Monaten ein Wechsel fällig werden.

Immerhin ist dieses Problem kein exklusiv russisches, wie auch die ukrainischen Streitkräfte erfahren mussten: Wegen der hohen Feuergeschwindigkeit machen die Rohre der Panzerhaubitze 2'000 bereits schlapp. Um zukünftige Probleme zu vermeiden, plant Deutschland laut «Spiegel» den Aufbau eines Wartungszentrums in Polen: «Allein die Idee zeigt erneut, dass sich Berlin auf einen langen Krieg in der Ukraine einstellt», analysiert das Hamburger Magazin.

Partisanen

Auch Partisanen und Kollaborateure sind ein Problem beider Seiten. In Mykolajiw gilt nun eine Ausgangssperre, um jene zu erwischen, die der russischen Artillerie die Ziele zuweisen. So sieht das dann aus: Die Fotos zeigen angeblich die SMS, die der mutmassliche Kollaborateur verschickt haben soll.

Verhaftung eines mutmasslichen Kollaborateurs in Mykolajiw.
Verhaftung eines mutmasslichen Kollaborateurs in Mykolajiw.
u/miragen125

Der Kollaborateur kommt jedoch mit seiner Verhaftung noch mit einem blauen Auge davon: In den besetzten Gebieten zetteln Partisanen einen Terror-Krieg an, der tödlich ist. Das gilt für den Donbass ...

... doch vor allem in Cherson ist der Widerstand stark. Hier liegt das Hauptquartier der Partisanen im Süden, schreibt BBC. Die Mitglieder seien Ukrainer, «die die Hoffnung auf einen Sieg nicht verloren haben und wollen, dass unser Land befreit wird», sagt einer von ihnen dem britischen Sender. «Natürlich haben sie Angst. Aber ihrem Land zu dienen, ist wichtiger.» Die Männer und Frauen werden parat sein, wenn die Ukraine auf Cherson zurückt.

Frische Kräfte

Was für ein Unterschied! Die Ukraine kommt nicht mit der Ausbildung Freiwilliger hinterher, die ihre Heimat verteidigen wollen. Weil die Ausbildungskapazitäten in Grossbritannien nicht ausreichen, wird sich nun auch Kanada am Training von Kiews Rekruten beteiligen.

Und auf der anderen Seite? «Dem russischen Militär in der Ukraine gehen die Soldaten aus», titelt «1945». Unter den Opfern sind auf russischer Seite überdurchschnittlich oft Minderheiten vertreten, weiss «Al Jazeera». «Die meisten der Soldaten und Offiziere der Bodentruppen und der Luft-Landetruppen kommen aus armen russischen Städten und Dörfern», bestätigt Militärexperte Pavel Luzin.

Das habe Tradition, weil die gut Gebildeten in anderen Teilstreitkräften dienten. Die Infanterie diene bloss als «Kanonenfutter». Das erklärt dann auch die Meldung, dass im Donbass angeblich immer mehr Zeitsoldaten verhaftet werden, die sich weigern, Befehle auszuführen.

Motivation

Es ist etwas anderes, wenn das, worum man kämpft, die eigene Heimat ist. So wie Valentyn Didkovskiy, der einst im Afghanistan-Krieg im Einsatz war. Heute lebt der 64-Jährige in Butscha. Er wollte zur Armee, aber die lehnt ihn auch wegen eines früheren Schlaganfalls ab. Als die Russen kommen, schnappt sich Valentyn die Waffen, derer er habhaft werden konnte, und schlägt zurück.

Die ukrainischen Kämpfer sind nicht nur motiviert, sondern auch findig. So haben ihre Einheiten russische Nachtsichtgeräte getäuscht, indem sie sich mit Gymnastikmatten eindeckten, um nicht erkannt zu werden. Und in Swjatohirsk im Oblast Donezk schicken sie ein Vier-Mann-Kommando los, um in der von Russen besetzten Stadt die ukrainische Flagge am höchsten Punkt zu hissen. In Sachen Motivation macht der Angreifer dem Verteidiger sicherlich nichts vor.