«Kommt, schiesst auf uns» 8 Gründe für die miese Moral der russischen Armee

Von Philipp Dahm

16.3.2022

Sie ziehen in einen Krieg, ohne es zu wissen. Sie glauben, sie werden mit offenen Armen empfangen und sind bald wieder zu Hause: Dass Russlands Soldaten die Motivation fehlt, hat sich der Kreml selbst eingebrockt.

Von Philipp Dahm

16.3.2022

Es ist eigentlich nicht zu erklären, warum Moskau die Lücke nicht schliesst: Die Ukraine hat im Süden nahe der Stadt Odessa immer noch einen Korridor zum Nato-Mitglied Rumänien, und eigentlich hätte man erwartet, dass diese Zone im Falle einer Invasion der Ukraine schnell von russischen Truppen eingenommen wird. 

Die Vorteile liegen auf der Hand: Kiew wäre so vom Schwarzen Meer abgeschlossen, ein Zufluss von Waffen für Kiew aus Rumänien könnte unterbunden werden und nicht zuletzt würde mit Odessa die drittgrösste Stadt des Landes belagert und die wirtschaftliche Macht Kiews eingeschränkt werden.

Wenn man der ukrainischen Seite Glauben schenkt, war der Angriff auf die Stadt am Schwarzen Meer schon fest eingeplant. «Es sieht so aus, als habe es an Bord der russischen Schiffe eine Rebellion gegeben», berichtet «The Odessa Journal» damals: «Die jungen Wehrpflichtigen haben es abgelehnt, die Befehle zu befolgen und die Küste der Millionenstadt anzugreifen.»

Als Grund wird mal angegeben, dass die Matrosen zum Gros von der Krim stammen und enge Beziehungen zu den Menschen dort hätten und mal wird angegeben, die Matrosen könnten die Taktik nicht nachvollziehen oder hätten zu grossen Respekt vor den ukrainischen Marineinfanteristen, die dort stationiert sind. Was auch immer richtig ist: Dass die russische Armee ein Problem mit der Motivation ihrer Soldaten hat, ist Fakt.

Das sind die Gründe dafür.

Von Offensive überrascht

Als die russische Armee vor Kriegsausbruch an der Grenze zur Ukraine aufmarschiert ist, sind auch viele Soldaten davon ausgegangen, dass sie in ein Manöver ziehen. Stellvertretend für diese Männer steht der SMS-Austausch eines Rekruten, den der ukrainische UN-Botschafter am 28. Februar verlesen hat.

Warum er sich so lange nicht gemeldet habe, will die Mutter wissen. Und ob es sich wirklich um ein Manöver handelt. «Mom, ich bin nicht länger auf der Krim. Es sind keine Übungen», schreibt der Sohn. Der Vater will wissen, ob er ein Paket schicken kann. «Was für ein Paket wollt ihr mir schicken, Mama? Ich will mich jetzt einfach nur aufhängen.»

Die Mutter will wissen, was passiert ist. Antwort: «Mama, ich bin in der Ukraine. Es gibt hier einen echten Krieg. Ich habe Angst. Wir bombardieren alle Städte. Sogar zivile Ziele. Mama, es ist so hart.»

Einsatz von Wehrpflichtigen

Laut russischem Gesetz ist es dem Militär verboten, Wehrpflichtige im Krieg einzusetzen. Doch die Generäle umgehen das Verbot offenbar, indem sie Betroffene überreden, freiwillig zu verlängern, ohne den Soldaten zu erklären, wohin das führt. Das berichtet das Online-Magazin «Meduza».

Nach ersten Dementis hat das russische Verteidigungsministerium inzwischen zugegeben, dass man tatsächlich Wehrpflichtige in der Ukraine «entdeckt» und sie unmittelbar danach vom Schlachtfeld abgezogen habe. «Ich betone, dass keine Wehrpflichtigen an den Feindseligkeiten teilhaben oder teilhaben werden», versichert Wladimir Putin prompt. «Und es werden keine zusätzlichen Reservisten eingezogen.»

Das war am 5. März: Dass Moskau wirklich genug Kräfte zur Verfügung hat, um auf jene Männer zu verzichten, muss bezweifelt werden.

Ziviler Widerstand

«Einige von ihnen haben gedacht, sie wären auch in einem Manöver», sagt Artem Mazhulin aus der Region Charkiw dem «Guardian». «Sie haben keinen Widerstand erwartet. Viele Wehrpflichtige sind Jahrgang 2002 oder 2003. Wir reden hier von 19- und 20-jährigen Jungs.»

Wieso ist russischen Soldaten «versichert worden, dass sie wie Befreier willkommen geheissen» würden, wie es die britische Zeitung schreibt? Der Fehler wurde offenbar bei der militärischen Führung gemacht, die davon ausgegangen ist, dass sich wenigstens der russischsprachige Teil der Ukrainer*innen über den Einmarsch freut und womöglich auch ein Teil des Rests über den Gedanken freut, die guten alten Sowjetzeiten wieder aufleben zu lassen.

Dominanz der russischen Sprache in der Ukraine nach einer Erhebung von 2003.
Dominanz der russischen Sprache in der Ukraine nach einer Erhebung von 2003.
Commons/Julieta39

Doch wie sich nun herausstellt, ist eher das Gegenteil der Fall. Der permanente politische Druck, der seit 2014 auf der Ukraine lastet, hat dazu geführt, dass sich ihre Reihen eher geschlossen haben. Selbst diejenigen Ukrainer, die zuerst Russisch sprechen, lehnen Putins Waffengang ab und entschuldigen sich für die russische Aussenpolitik.  

«Was macht ihr hier?»: Das Video des «Guardian» zeigt, wie in Melitupol ein verärgerter ukrainischer Russe mit russischen Soldaten redet.

Dort, wo das russische Militär die Oberhand gewonnen hat, sehen sich die Besatzer mit Widerstand, Protest und Demonstrationen durch Zivilisten konfrontiert, die den Nachbarn klar vor Augen führen, was sie von ihrer Anwesenheit halten.

«Geht nach Hause» – Ukrainer demonstrieren gegen russische Besatzer

«Geht nach Hause» – Ukrainer demonstrieren gegen russische Besatzer

SHOWS: STORY: Diese Einwohner der Kleinstadt Cherson im Süden der Ukraine wollten sich gegen die Besatzung durch russische Truppen mit Demonstrationen wehren. Sie skandierten «Geht nach Hause» und stellten sich mit ihrer Landesflagge einem russischen Militärkonvoi entgegen. In einem der Nachrichtenagentur Reuters zur Verfügung gestellten Video ist zu sehen, dass die Demonstration stattfand während in unmittelbarer Nähe Schüsse abgefeuert wurden. Die Stadt wurde bereits am 24. Februar, direkt nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine eingenommen. Laut Aussagen des Gemeinderats plane Russland nun ein Unabhängigkeitsreferendum in der Stadt durchzuführen. In der Hafenstadt Mariupol wurden russische Militärfahrzeuge beschossen, so zumindest die Angaben der ukrainischen Nationalgarde. In einem auf Social Media veröffentlichten Video ist der Beschuss demnach zu sehen. Mariupol steht bereits seit Tagen unter Beschuss, inzwischen fehlt es hier an Lebensmitteln und Wasser, Hilfskonvois können wegen der Angriffe nicht zu der Bevölkerung vordringen. Der Stadtrat von Mariupol gab an, dass dort seit Beginn der Invasion 2.187 Einwohner getötet worden seien.

14.03.2022

Legitimation des Krieges

Während der Krieg 2014 im russischen TV mit entsprechenden Berichten aufgegleist worden ist, hat 2022 die Vorbereitung gefehlt. Vor acht Jahren war von Angriffen auf Russen die Rede, das Verbot der russischen Sprache hatte für Furore gesorgt und mediale Begleitung sorgte dafür, dass die damalige «Mission» allen klar war.

Jetzt fehlen die «guten Gründe»: Seinen Soldaten und der Welt erzählt Moskau, die Armee sei zur «Denazifizierung» in der Ukraine, doch die Bevölkerung behandelt sie wie Besatzer. «Ihr seid bewaffnet, wir sind es nicht. Kommt, schiesst auf uns», rufen sie im besetzten Kherson. «Schämt ihr euch nicht?» Und: «Ihr seid die Faschisten, nicht wir.»

Bürger*innen protestieren in Kherson am 14. März gegen die russische Besatzung.

Quelle: Radio Free Europe/Radio Liberty

Viele Frauen und Alte sind in dem Clip zu hören: Das Tohuwabohu geht so lange weiter, bis die Soldaten entnervt in die Luft schiessen, um die Bürger*innen zu vertreiben. 

Von der Ukraine gefangene Russen erzählen auf einer Pressekonferenz von ihren Motiven. Ob sie das freiwillig tun, kann jedoch nicht überprüft werden.

Quelle: Ukrainische Streitkräfte

Mieses Essen

Offensichtlich ist die russische Führung von einem Blitzkrieg ausgegangen – und hat sich angesichts dessen auch nicht darauf eingestellt, die Armee über einen längeren Zeitraum mit dem Nötigsten versorgen zu müssen.

Die Folge: In diversen Videos wird festgehalten, wie russische Soldaten plündern. Dabei geht es zwar auch um Wertgegenstände, doch oft genug versuchen die Betroffenen auch, sich mit Nahrungsmitteln einzudecken, weil die Armee-Rationen alles andere als geniessbar sind.

Sicherheitskameras halten fest, wie ukrainische Geschäfte von russischen Soldaten geplündert werden.

Quelle: Radio Free Europe/Radio Liberty

Nachschub-Probleme und Hinterhalte

Das Essen ist bei der mangelnden Versorgung der Truppe nur die Spitze des Eisbergs: Ohne Treibstoffe können die Soldaten sich einerseits natürlich nicht bewegen, doch andererseits können sie sich auch nicht aufwärmen, was angesichts eisiger Temperaturen in der Ukraine ein grosses Problem ist.

Sollten dann auch noch Dinge wie Munition und Ersatzteile fehlen, senkt das die Motivation weiter. Die Gründe für die Nachschubprobleme kannst du im oben stehenden Artikel nachlesen. Permanente Hinterhalte tragen ihren Teil dazu bei, die Moral der Russen weiter zu verringern.

Alptraum für russische Soldaten: Ukrainische Drohnenbilder zeigen einen Hinterhalt in einem Vorort von Kiew.

Quelle: Ukrainische Streitkräfte

Militärischer Widerstand

Wer einen Spaziergang erwartet und plötzlich einen anstrengenden Marathon laufen muss, kann nicht zufrieden sein: Die Führung hat der Armee einen schnellen Feldzug versprochen, und nun müssen sich die Soldaten sehr viel länger einem deutlich gefährlicheren Kampf stellen, als sich die Angreifer hätten träumen lassen.

Wenn die Ukraine ihre Erfolge dann noch mit Propaganda-Posts auf Social Media vergoldet, macht das den Durchhaltewillen des russischen Gegners nicht grösser.

Propaganda: So stellen ukrainische Truppen sich selbst im Kampf gegen die Russen dar.

Quelle: Ukrainische Streitkräfte

Unerwartet hohe Verluste

Hand in Hand mit dem härteren Widerstand gehen mehr Verluste auf Seite der Russen einher. Der Kreml spielt die Zahlen zwar herunter, doch es gibt Gruppen wie die Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands, die jene Verluste thematisieren.

Ein Bericht des US-Senders CBS über gefangene russische Soldaten, die ihre Mütter anrufen. Die Bilder wurden allerdings von der ukrainischen Armee gemacht und nicht unabhängig verifiziert.