«Zutiefst besorgt» Hunderte Tote bei «Massakern» in Syrien

dpa

8.3.2025 - 11:13

In Syrien sind heftige Kämpfe zwischen Anhängern der gestürzten Regierung und den neuen Machthabern ausgebrochen. Es gibt Berichte über Massaker an Zivilisten.

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  • Drei Monate nach dem Sturz von Baschar al-Assad erschüttern heftige Kämpfe zwischen Anhängern des alten Regimes und der neuen islamistischen Übergangsregierung Syrien.
  • Hunderte Menschen, darunter viele Zivilisten, wurden dabei getötet.
  • Kämpfer der neuen Regierung sollen Massaker an Alawiten verübt haben. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa fordert die Angreifer zur Kapitulation auf.

Drei Monate nach dem Machtwechsel in Syrien sind laut Aktivisten mehrere Hundert Menschen bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Langzeitherrschers Baschar al-Assad getötet oder verletzt worden. Dabei sollen laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auch mehr als 330 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, von Kämpfern der neuen islamistischen Machthaber getötet worden sein. Die Opfer gehören demnach zur alawitischen Minderheit, zu der auch al-Assad zählt.

Die Zivilisten seien auf eine Art und Weise getötet worden, «die sich nicht von den Operationen der Sicherheitskräfte des ehemaligen Regimes unterscheidet – ein kollektiver Akt der Vergeltung», hiess es in einem Bericht der Beobachtungsstelle mit Sitz in Grossbritannien, die den Konflikt seit Jahren über ein Netzwerk von Informanten verfolgt. 

Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten mit Angriffen versucht, «das neue Syrien zu testen». Al-Scharaa lobte die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief die Angreifer auf, ihre Waffen niederzulegen. Jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef zugleich an. Berichte über Massaker erwähnte er nicht. 

Berichte über Massaker

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, zeigte sich «zutiefst besorgt». Er rief in einer Mitteilung alle Seiten auf, von Handlungen abzusehen, «die die Spannungen weiter anheizen, den Konflikt eskalieren, das Leid der betroffenen Gemeinschaften verschlimmern, Syrien destabilisieren und einen glaubwürdigen und integrativen politischen Übergang gefährden könnten». Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse gemäss dem Völkerrecht gewahrt werden. 

«Es wurden Massaker an der alawitischen Religionsgemeinschaft verübt», sagte der Direktor der Beobachtungsstelle, Rami Abdel-Rahman, der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Aktivisten aus der Stadt Idlib, mit denen die dpa sprechen konnte, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung dafür verantwortlich. Sie sollen sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben.

Dagegen meldete das syrische Staatsfernsehen, dass sich Unbekannte mit Uniformen der Regierungstruppen verkleidet und die Taten begangen haben sollen, um einen Bürgerkrieg anzustiften. 

Erster grosser Test für Übergangspräsident al-Schaara 

Geheimdienstchef Anas Chattab hatte die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung aufgerufen. Übergangspräsident al-Scharaa rief «alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben» auf, sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und «die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstösse zu kontrollieren». Für den früheren Rebellenchef sind die Auseinandersetzungen der erste grosse Test seit der Machtübernahme. 

«Die Überbleibsel des alten Regimes nutzen die begrenzten militärischen und sicherheitspolitischen Kapazitäten der syrischen Regierung aus, um den politischen Übergang in Syrien zu behindern», erklärte Lina Khatib von der Denkfabrik Chatham House dem «Wall Street Journal». Al-Schaaras Regierung stehe vor dem Dilemma, hart genug gegen Anhänger Al-Assads vorzugehen, um einen ausgewachsenen Aufstand zu verhindern – ohne aber die Alawiten zu verprellen, die um ihre Zukunft bangten und Angriffe erlebten, so die Zeitung.

Geheimdienstchef Chattab machte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Ex-Präsidenten für die Zusammenstösse verantwortlich. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der Dutzende Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien. Sie würden aus dem Ausland gesteuert, schrieb Chattab auf der Onlineplattform X. Tausende Menschen hatten sich in Damaskus und etlichen anderen Städten versammelt, um gegen die bewaffneten Anhänger al-Assads zu demonstrieren. 

Kämpfe im Kernland der Alawiten

Viele Menschen forderten, die bewaffneten Angriffe zurückzuschlagen. Die Sicherheitskräfte gehen laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana vor allem entlang der Mittelmeerküste, dem Kernland der alawitischen Minderheit, gegen Anhänger al-Assads vor. In der gebirgigen Küstenregion sind noch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu der gestürzten Vorgängerregierung aktiv. 

Unter anderem in der Stadt Dschabla etwa 25 Kilometer südlich von Latakia, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll es zu schweren Gefechten gekommen sein. Laut Sana wehrten Sicherheitskräfte in Latakia einen Angriff auf ein Krankenhaus ab. Für die Stadt und auch die weiter südlich gelegene Küstenstadt Tartus wurden bis Samstagvormittag Ausgangssperren verhängt. 

Nach Angaben eines Offiziers verlegte die Übergangsregierung am Freitag grössere Truppenkontingente in die Küstenregion. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden. Insgesamt starben bei den Kämpfen nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte bislang mindestens 237 Menschen. 

Assad hatte Syrien mehr als zwei Jahrzehnte regiert. Nach einer Blitzoffensive unter Führung der Islamistengruppe HTS Ende vergangenen Jahres floh er nach Russland. Die neue Übergangsregierung unter Führung von al-Scharaa versucht seitdem die Sicherheit im Land wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Al-Scharaa versprach bei Amtsantritt, alle Gruppen in dem Land in einen Prozess der politischen Erneuerung einzubeziehen und Menschenrechte zu achten. Er hofft damit auf Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Syrien.