Mehr als 230 Festnahmen Angriff auf das Herz von Brasiliens Demokratie

Von Denis Düttmann, dpa

9.1.2023 - 07:24

Bolsonaro-Anhänger stürmen Regierungsgebäude in Brasilia

Bolsonaro-Anhänger stürmen Regierungsgebäude in Brasilia

STORY: In Brasilien haben Anhänger des ehemaligen Präsidenten Bolsonaro am Sonntag das Kongress-Gebäude, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast gestürmt und Verwüstungen angerichtet. Auf Video-Aufnahmen war zu sehen, wie mehrere Tausende Menschen in den Gebäuden in der Hauptstadt Brasilia Fenster einwarfen und Möbel zerstörten. Die Polizei setzte Tränengas ein. Der neue linke Präsident Luiz Inacio Lula Silva hielt sich im Bundesstaat Sao Paulo auf. Er machte den Rechtspopulisten Bolsonaro für die Gewalt verantwortlich und beklagte, Faschisten und Fanatiker hätten wegen mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen wüten können. Lula Da Silva, Staatspräsident Brasilien: «Ich will Ihnen sagen, dass all die Leute, die dies getan haben, gefunden und bestraft werden. Sie werden erkennen, dass die Demokratie das Recht auf Freiheit und freie Meinungsäusserung garantiert, aber sie verlangt auch, dass die Menschen die Institutionen respektieren, die zur Stärkung der Demokratie geschaffen wurden. Diese Leute, diese Vandalen, die man als fanatische Nazis oder fanatische Faschisten bezeichnen könnte, haben etwas getan, was es in diesem Land noch nie gegeben hat.» Medienberichten zufolge erlangten die Sicherheitskräfte im Laufe des Tages die Kontrolle über die Gebäude der drei Staatsgewalten wieder. Dutzende Demonstranten wurden in Handschellen abgeführt. Die Ereignisse in Brasilia erinnerten an die Erstürmung des US-Kapitols am 06. Januar 2021 durch Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump. Sie erkannten den Wahlsieg des Demokraten Joe Biden nicht an. Trumps Nachfolger Biden nannte die Lage in Brasilien ungeheuerlich. Auch die EU, Frankreich, Spanien, Portugal, Grossbritannien und andere westliche Staaten verurteilten die Gewalt umgehend und sprachen von einem Angriff auf die Demokratie.

09.01.2023

Eine Woche nach dem Amtsantritt des Linkspolitikers Lula bricht sich der Hass auf die neue Regierung Bahn. Tausende Anhänger des rechten Ex-Präsidenten Bolsonaro stürmen Kongress und Regierungssitz. Die Aktion erinnert an die Vorfälle in Washington vor zwei Jahren.

9.1.2023 - 07:24

Radikale Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro haben das Regierungsviertel in der brasilianischen Hauptstadt Brasília gestürmt und kurzzeitig die Schaltzentralen der wichtigsten Staatsgewalten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Sie drangen am Sonntag (Ortszeit) in den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto ein und randalierten in Sitzungssälen und Büros.

«Was sie heute getan haben, ist beispiellos in der Geschichte des Landes», sagte Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva, der zum Zeitpunkt der Attacke nicht in der Hauptstadt war. «Das war Barbarei. Das waren Faschisten. Sie müssen gefunden und bestraft werden.» Der Linkspolitiker hatte Brasilien bereits zwischen 2003 und 2010 regiert und erst vor einer Woche als erster demokratisch gewählter Präsident des südamerikanischen Landes eine dritte Amtszeit angetreten.

Tausende Bolsonaro-Fans hatten zuvor das Regierungsviertel gestürmt. Die Polizei wirkte völlig überrumpelt. Schnell rissen die Demonstranten die Strassensperren ein und drängten die Beamten zurück. Bald standen sie auf dem Dach des Kongresses und schwenkten brasilianische Nationalflaggen. Kurz darauf drangen sie auch in den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz ein.

Szenen wie im Kapitol in Washington

Im Inneren der Gebäude liessen die Randalierer ihrem Hass auf die neue Linksregierung freien Lauf. Sie stiessen Stühle und Schreibtische um, warfen Fensterscheiben ein, beschädigten Kunstwerke und schmierten Parolen an die Wände. Ein Angreifer nahm sogar die Bürotür des bei Bolosonaro-Anhängern besonders verhassten Bundesrichters Alexandre de Moraes als Trophäe mit.

Berittene Polizisten versuchen am 8. Januar 2023 Herr der Lage zu werden.
Berittene Polizisten versuchen am 8. Januar 2023 Herr der Lage zu werden.
Bild: Imago/Fotoarena

Erst nach Stunden brachten die Sicherheitskräfte die Lage wieder unter Kontrolle. Die Militärpolizei rückte mit Reiterstaffeln und gepanzerten Fahrzeugen auf den Platz der drei Staatsgewalten im Zentrum der Hauptstadt vor. Spezialkräfte setzen Tränengas ein, Hubschrauber kreisten über dem Regierungsviertel. Rund 230 Verdächtige wurden festgenommen, wie Justizminister Flavio Dino mitteilte.

Gerade zu Beginn der Krawalle gab die Polizei keine gute Figur ab. Schon seit Tagen kampierten zahlreichreiche Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptquartier der Streitkräfte. Als am Samstag und Sonntag rund 4000 weitere Unterstützer des Ex-Präsidenten in Bussen in der Hauptstadt eintrafen und zum Regierungsviertel zogen, wurden sie sogar von Beamten eskortiert. Polizisten machten Selfies mit den Demonstranten und drehten Handy-Videos, wie im Fernsehen zu sehen war.

Sicherheitschef von Brasília entlassen

Der Sicherheitschef von Brasília, Anderson Torres, war unter Bolsonaro Justizminister und gilt als Gefolgsmann des Ex-Präsidenten. Er wurde noch am Sonntag entlassen. Lula stellte die öffentliche Sicherheit in der Hauptstadt per Dekret unter Bundesaufsicht. Auch in der Polizei hat der frühere Staatschef Bolsonaro offenbar noch immer viele Sympathisanten. Als der Mob das Regierungsviertel stürmte, stellten sich ihm jedenfalls nur wenige Beamte entgegen.

Bolsonaro verurteilte den Angriff seiner radikalen Anhänger auf das Regierungsviertel. «Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter», schrieb der rechte Ex-Staatschef auf Twitter. «Während meiner gesamten Amtszeit habe ich mich stets an die Verfassung gehalten und die Gesetze, die Demokratie, die Transparenz und unsere heilige Freiheit geachtet und verteidigt.»

Lula warf Bolsonaro vor, seine Anhänger aufgestachelt zu haben. «Sie nutzten die sonntägliche Stille, als wir noch dabei waren, die Regierung zu bilden, um zu tun, was sie taten. Es gibt mehrere Reden des ehemaligen Präsidenten, in denen er dies befürwortet. Dies liegt auch in seiner Verantwortung und in der Verantwortung der Parteien, die ihn unterstützt haben», sagte Lula.

Bolsonaro mit Familie in USA

Bolsonaro verbat sich die Anschuldigungen. «Ich weise die Vorwürfe zurück, die der derzeitige Chef der brasilianischen Regierung ohne Beweise erhebt», schrieb er. Der Ex-Militär hatte mit seiner Familie Brasilien bereits zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit verlassen und war in die USA gereist.

Die Szenen in Brasília erinnerten an die Ausschreitungen am Sitz des US-Kongresses in Washington am 6. Januar 2021. Damals hatten Anhänger von Donald Trump das Kapitol gestürmt, in dem die Wahlniederlage des Republikaners gegen Joe Biden beglaubigt werden sollte. Die Menge drang gewaltsam in das Gebäude ein, fünf Menschen starben.

US-Präsident Biden nannte die Vorfälle nach Angaben seiner Sprecherin «ungeheuerlich». «Unsere Unterstützung für die demokratischen Institutionen Brasiliens ist unerschütterlich», erklärte sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan. Auch der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell stärkte der neuen Regierung von Lula den Rücken. «Die EU verurteilt die antidemokratischen Akte der Gewalt, die am Sonntag, dem 8. Januar, im Herzen des Regierungsviertels von Brasília stattgefunden haben», teilte Borrell am Sonntagabend mit. «Die brasilianische Demokratie wird über Gewalt und Extremismus siegen», hiess es weiter.

Der rechte Präsident Bolsonaro war im vergangenen Oktober dem Linkspolitiker Lula in der Stichwahl unterlegen und zum Jahreswechsel aus dem Amt geschieden. Bereits vor der Wahl hatte er immer wieder Zweifel am Wahlsystem gestreut. Beweise dafür legte er allerdings nie vor. Auch nach der Abstimmung erkannte er seine Niederlage nie ausdrücklich an. Seine Anhänger blockierten immer wieder Landstrassen, kampierten vor Kasernen und forderten eine Militärintervention zugunsten des abgewählten Staatschefs.

Von Denis Düttmann, dpa