«Seid brutal und zeigt kein Mitleid» Augenzeugen berichten aus Putins Foltergefängnissen

Lea Oetiker

10.2.2025

Hier wurde ein ukrainischer Soldat am 16. Januar 2025 von russischen Soldaten gefangen genommen.
Hier wurde ein ukrainischer Soldat am 16. Januar 2025 von russischen Soldaten gefangen genommen.
sda

Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat Russland ein Regime der systematischen Folter an ukrainischen Kriegsgefangenen etabliert. Ehemalige Wärter und Opfer berichten von den Misshandlungen.

Lea Oetiker

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine werden ukrainische Kriegsgefangene systematisch gefoltert, wie ehemalige Wärter und Opfer berichten.
  • Die Misshandlungen umfassen Elektroschocks, Schläge und verweigerte medizinische Hilfe.
  • Das Ziel: Die Gefangenen für Verhöre gefügig zu machen und ihren Widerstand zu brechen.

Als Russland vor fast drei Jahren in die Ukraine einmarschierte, richtete Igor Potapenko, Generalmajor und Leiter der Gefängnisse in St. Petersburg, eine klare Botschaft an die Eliteeinheit der Wärter, die für die Überwachung der Kriegsgefangenen zuständig war: «Seid brutal und zeigt kein Mitleid.» 

Potapenko versammelte die Spezialeinheit und erklärte ihnen ein neues System für ukrainische Gefangene. Er sagte, dass normale Regeln nicht gelten würden und Gewalt erlaubt sei. Die sonst üblichen Körperkameras wurden entfernt. 

Ukrainische Kriegsgefangene wurden fast drei Jahre lang brutal gefoltert. Die Wärter setzten Elektroschocks an den Genitalien ein, schlugen gezielt schwer zu und verweigerten medizinische Hilfe, was oft zu schlimmen Entzündungen und Amputationen führte.

Die Gefängniswärter wechselten regelmässig ihren Einsatzort. Sie arbeiteten jeweils einen Monat lang in einem Gefängnis, bevor sie von einem anderen Team-Mitglied abgelöst wurde.

Berichte von starker Folter

Nun erzählten frühere Gefängniswärter dem «Wall Street Journal» (WSJ), wie Russland die Folter von Gefangenen organisiert und ausgeführt hat.

Die Aussagen der Wärter wurden durch offizielle Papiere, Gespräche mit ukrainischen Gefangenen und eine Person bestätigt, die den russischen Gefängniswärtern bei der Flucht half. Die zwei Offiziere aus den Spezialeinheiten verliessen den Gefängnisdienst, bevor sie foltern mussten. Sie blieben aber mit ihren Kollegen in Verbindung, die weiter dort arbeiteten.

Der 25-jährige Pawel Afisow wurde in den ersten Kriegsmonaten in Mariupol gefangen genommen. Er war einer der ersten Gefangenen in Russland. Zweieinhalb Jahre lang wurde er von Gefängnis zu Gefängnis verlegt, bevor er im Oktober letzten Jahres freikam.

Die Misshandlungen seien besonders schlimm gewesen, wenn er in ein neues Gefängnis kam. Er erzählt, dass er in einer Haftanstalt in der Region Twer in einen Untersuchungsraum gebracht wurde. Dort musste er sich ausziehen und wurde mehrfach mit einem Elektroschocker gefoltert. Ausserdem rasierten ihm die Wärter Kopf und Bart.

Nach der Folter sollte Afisow «Ruhm für Russland, Ruhm für die Spezialeinheiten» rufen und nackt die russische und sowjetische Hymne singen. Als er sagte, er kenne den Text nicht, wurde er wieder geschlagen.

Gewalt sollte die Gefangenen gefügig machen

Laut ehemaligen Wärtern und Menschenrechtsaktivisten diente die Gewalt dazu, die Gefangenen für Verhöre gefügig zu machen und ihren Kampfgeist zu brechen, wie das WSJ schreibt. Bei den Verhören wollte man oft Geständnisse zu Kriegsverbrechen erzwingen oder militärische Informationen erpressen, da die Gefangenen nach der brutalen Behandlung kaum noch Widerstand leisten können.

Die Gewalt sorge dafür, dass die Gefangenen sich den russischen Verhörbeamten leichter unterwerfen und «jeden Willen oder jede Fähigkeit verlieren, zu kämpfen, falls sie ausgetauscht werden», erklärt Wladimir Osechkin, Leiter der Menschenrechtsorganisation Gulagu.net. Er war es auch, der den russischen Beamten geholfen hatte, das Land zu verlassen und vor dem Internationalen Strafgerichtshof auszusagen.

Die ehemaligen Wärter berichteten von extremer Gewalt gegen ukrainische Gefangene. Elektroschocker wurden so oft eingesetzt, besonders in den Duschen, dass sich die Beamten darüber beschwerten, dass die Batterien ständig leer waren.

Mindestens eine Person starb an einer Sepsis

Ein ehemaliger Mitarbeiter des russischen Gefängnissystems berichtete, dass Wärter ukrainische Gefangene so lange schlugen, bis ihre Schlagstöcke zerbrachen.

Er erzählte auch, dass es einen Heizungsraum voller zerbrochener Knüppel gab und die Beamten andere Gegenstände, wie isolierte Warmwasserrohre, testeten, um herauszufinden, womit sie den grössten Schmerz und Schaden zufügen konnten.

Die Wärter schlugen die Gefangenen absichtlich immer wieder auf dieselbe Stelle, wodurch die Blutergüsse nicht heilen konnten und sich im Gewebe Infektionen entwickelten. Das führte zu Blutvergiftungen, bei denen das Muskelgewebe verfault.

Mindestens eine Person starb an einer Sepsis, berichtete einer der Beamten. Viele der Wärter hatten Freude an der Gewalt und prahlten damit, wie viel Schmerz sie den Gefangenen zugefügt hatten, fügte er hinzu.

Nach 30 Monaten endlich Freiheit

Auch der 25-jährige Andriy Yegorov wurde von Russen gefangen genommen. Er erzählte, dass die Wärter in einem Gefängnis in der Region Brjansk, die Gefangenen zwangen, 100 Meter durch einen Gang zu rennen. Dabei mussten sie Matratzen über ihren Köpfen hochhalten.  Die Wärter schlugen dabei von der Seite in die Rippen. Am Ende des Gangs mussten die Gefangenen Sit-ups und Liegestütze machen, wobei sie bei jeder Bewegung von den Wärtern mit Fäusten oder Schlagstöcken geschlagen wurden.

Yegorov berichtete weiter, dass die Wärter dabei lachten, während die Gefangenen vor Schmerzen schrien.

Afisov und Yegorov verbrachten etwa 30 Monate in russischer Gefangenschaft, bevor sie am 18. Oktober schliesslich im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freikamen. 

Nach seiner Freilassung wurde Yegorov von einem Arzt untersucht. Dort stellte man fest, dass er fünf gebrochenen Wirbel hatte. Im Spital wurde er behandelt und man stellte ihm einen Psychologen zur Verfügung. Allerdings ist er skeptisch, ob der Psychologe ihm wirklich helfen könne.

Yegorov meinte, dass ihm nur jemand helfen könne, der Ähnliches erlebt habe wie er. Afisov wollte nach seiner Heimkehr zunächst nicht schlafen, weil er Angst hatte aufzuwachen und wieder im Gefängnis zu sein. Als er schliesslich wieder schlafen konnte, plagten ihn Alpträume.

Beide im Zeugenschutzprogramm

Die beiden Gefängnisbeamten, die mit der Zeitung sprachen, haben ein neues Leben begonnen. Sie leben an einem geheimen Ort und haben den Kontakt zu alten Bekannten abgebrochen. Sie sind im Zeugenschutzprogramm.

Einer von ihnen sagte, er sei immer ein Patriot gewesen und wollte nur in Russland leben. Aber nach Kriegsbeginn konnte er nicht mehr dort bleiben oder schweigen. Er glaubt, dass seine Aussage vor dem Internationalen Strafgerichtshof helfen kann, Gerechtigkeit zu schaffen.

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