«Beste Gelegenheit für einen Diktator» Autoritäre Kräfte in der Pandemie auf dem Vormarsch

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16.7.2021 - 20:58

Verkauf der letzten Ausgabe der Apple Daily in Hongkong. Im Kampf gegen Corona haben sich extremistische Tendenzen weltweit verstärkt.
Verkauf der letzten Ausgabe der Apple Daily in Hongkong. Im Kampf gegen Corona haben sich extremistische Tendenzen weltweit verstärkt.
AP Photo/Vincent Yu/Keystone (Archivbild)

Festnahmen von Kritikern, drakonische Gesetze und Einschränkungen von Freiheitsrechten: Im Kampf gegen Corona haben sich extremistische Tendenzen weltweit verstärkt.

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Auf der Welt ist einiges geschehen, während die Menschheit vom Kampf gegen das Coronavirus in Beschlag genommen war. Ungarn verbot öffentliche Darstellungen von Homosexualität. China schloss die letzte pro-demokratische Tageszeitung Hongkongs. Und Belarus entführte ein Passagierflugzeug, um einen Journalisten festzunehmen.

Covid-19 hat die Energien weltweit absorbiert und Länder voneinander isoliert. Nach Ansicht von Forschern und Aktivisten profitierten davon autoritäre und extremistische Kräfte rund um den Erdball. «Covid ist die beste Gelegenheit für einen Diktator», sagt der kambodschanisch-amerikanische Menschenrechtsanwalt Theary Seng. Er wurde in dem vermeintlich demokratischen südostasiatischen Land, in dem Ministerpräsident Hun Sen seit mehr als 30 Jahren an der Macht ist, unter anderem wegen Hochverrats angeklagt.

Mehr Macht für den Staat

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der kambodschanischen Regierung vor, die Pandemie auszunutzen, um möglichst unbemerkt politische Gegner ohne rechtsstaatliches Verfahren zu inhaftieren. Regierungskritiker seien in ihrer Arbeit stark eingeschränkt worden durch «die Angst vor Covid selbst und die Angst vor Covid als politische Waffe», sagt Seng.

Die grösste globale Gesundheitskrise seit einem Jahrhundert hat staatlichen Stellen mehr Macht gegeben und für Milliarden Menschen das Leben eingeschränkt. Die riesigen Ressourcen aus Wirtschaft, Gesundheits- und Sozialwesen, die in die Bekämpfung der Pandemie geflossen seien, hätten dazu geführt, «dass der Staat zurück ist als Kraft zur Steuerung der Gesellschaft und zur Bereitstellung öffentlicher Güter», sagt Wissenschaftler Luke Cooper von der London School of Economics.

Restriktionen weltweit

Auf mehreren Kontinenten wurden in der Corona-Zeit Begrenzungen von Freiheitsrechten oder politischen Gegnern verschärft. In Ungarn schränkt der konservativ-nationalistische Ministerpräsident Viktor Orbán schon seit zehn Jahren die Medien- und Justizfreiheit ein, kritisiert den Multikulturalismus und greift muslimische Migranten als Bedrohung für die christliche Identität Europas an. Während der Pandemie verhängte seine Regierung ein Notstandsgesetz, das es ihr ermöglicht, Beschlüsse ohne Zustimmung des Parlaments umzusetzen.

Im Juni verabschiedete sie ein Gesetz, das es verbietet, in sozialen Netzwerken Inhalte zu veröffentlichen, die Homosexualität oder Geschlechtsangleichungen bei Minderjährigen thematisieren. Als Ziel nannte die Regierung den Schutz von Kindern vor Pädophilen. Faktisch verbietet das Gesetz aber Diskussionen über sexuelle Orientierung und Gender-Identität in Schulen und Medien.

Die konservative Regierung in Polen hat die Rechte von Frauen und homosexuellen Menschen beschnitten. Nach einem entsprechenden Gerichtsurteil wurde im vergangenen Jahr ein fast vollständiges Abtreibungsverbot eingeführt, was – trotz eines coronabedingten Verbots von Massenversammlungen – eine Serie von Protesten auslöste.

In Indien, der grössten Demokratie der Welt, wurde dem populistischen Regierungschef Narendra Modi vorgeworfen, Kritiker seiner Corona-Politik zum Schweigen bringen zu wollen. Das Land war im April und Mai von einer heftigen Infektionswelle erfasst worden. Modis Regierung nahm Journalisten fest und wies Twitter an, Posts zu entfernen, in denen der staatliche Umgang mit dem Ausbruch kritisiert wurde.

Die Regierung von Präsident Wladimir Putin in Russland nutzte die Pandemie als jüngsten Vorwand zur Festnahme von Oppositionellen. Verbündete des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurden mit Hausarrest bestraft und beschuldigt, dass die Massenproteste gegen dessen Festnahme gegen die Corona-Auflagen verstiessen.

Extremistische Tendenzen schon vor Pandemie im Aufwind

Im benachbarten Belarus verlängerte der autoritäre Präsident Alexander Lukaschenko durch einen höchst umstrittenen Wahlsieg im August 2020 seine seit 25 Jahren andauernde Herrschaft. Gegen die folgenden Proteste gingen die Behörden mit Tränengas, Gummigeschossen und massenhaften Festnahmen vor. Im Mai dieses Jahres wurde ein Ryanair-Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius zur Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk gezwungen. Der an Bord befindliche oppositionelle Journalist Roman Protassewitsch wurde zusammen mit seiner Freundin festgenommen.

Und schon vor der Pandemie hatten extremistische Tendenzen weltweit zugenommen. Die globale Finanzkrise von 2008 hatte das Vertrauen in die westliche Weltordnung erschüttert. Und die folgenden Jahre der Rezession und Sparpolitik förderten den Populismus in Europa und Nordamerika. In China wiederum sahen die Regierenden im Wirtschaftscrash von 2008 den Beleg dafür, dass sie – und nicht die demokratischen Systems auf der Welt – auf dem richtigen Weg waren.

«Kampf wird Jahrzehnte dauern»

Peking stärkte im Ausland die chinesische Wirtschaft und ging im Inland gegen Oppositionelle vor. Verschärft wurde auch die Kontrolle über die ehemalige britische Kolonie Hongkong. Peking-kritische Demonstranten, Verleger und Journalisten wurden festgenommen. Die letzte prodemokratische Zeitung, «Apple Daily», stellte im Juni nach der Festnahme ihrer wichtigsten Beschäftigten ihr Erscheinen ein.

Nach dem ersten Auftauchen des Coronavirus in der chinesischen Stadt Wuhan reagierten die Behörden mit drakonischen Lockdowns. Auch in ganz Europa wurden Ausgangssperren und Reisebeschränkungen im vergangenen Jahren zum Alltag. Vielerorts stiess das Vorgehen der Regierungen, die oft an den Parlamenten vorbei handelten, auf Kritik.

In Brasilien hingegen bezeichnete der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro das Virus als «kleine Grippe» und äusserte Zweifel an Impfstoffen. In den USA hat sich Präsident Joe Biden zwar vom populistischen Kurs seines Vorgängers Donald Trump abgewendet. Doch die von Trump radikalisierte Republikanische Partei hat grosse Chancen, wieder an die Macht zu kommen.

Wissenschaftler Cooper rechnet nicht mit einem baldigen Abebben der autoritären Welle. «Das ist ein Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus, der Jahrzehnte dauern wird», sagt er.