Geheimbericht enthülltBerlin ignorierte Warnungen vor Putins Gas-Machtspielen
tjnj
13.10.2022
Erst vor kurzem behauptete Olaf Scholz, Nord Stream 2 wegen einer möglichen Abhängigkeit von Russland kritisch zu sehen. Ein nun veröffentlichter Geheimbericht zeugt vom Gegenteil.
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13.10.2022, 18:28
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«Auch [Energielieferungen] nutzt der russische Präsident als Waffe. Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.» Wegen dieses Satzes bei einer Rede am vergangenen Dienstag ist der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nun in die Kritik geraten.
Zuvor hatte der «Spiegel» über einen bislang geheimen Bericht des damals von CDU-Politiker Peter Altmaier geführten Wirtschaftsministeriums von vergangenem Oktober berichtet. Als zentralen Satz zitiert das Blatt das Fazit: «Die Gas- und Elektrizitätsversorgung der Bundesrepublik Deutschland wird nicht gefährdet.» Sprich: Bedenken wurden beseite gewischt.
Wie der «Spiegel» weiter schreibt, lag das Papier dem Finanzministerium, dem Scholz damals vorstand, zur Mitzeichnung vor. Ein Widerspruch mit Scholz‘ Rede: Da behauptete der Kanzler, die Frage, was passiere, wenn Russland kein Gas mehr liefern würde, «schon im Dezember gestellt» zu haben. «Das war […] zu einer Zeit, als die allermeisten das noch nicht für wahrscheinlich gehalten haben», so der Kanzler weiter. «Aber ich habe es für möglich gehalten.»
Warnungen aus Polen, der Ukraine und Italien
Aus dem 54-seitigen Papier hingegen gehen lediglich die Bedenken anderer europäischer Regierungen wie Polen, der Ukraine und Italien hervor. Diese hätten Berlin sowohl davor gewarnt, dass das Staatsunternehmen Gazprom europäisches Recht leicht ignorieren könne als auch auf die enge Verbindung zwischen der Betreiberfirma und dem Kreml hingewiesen.
Polen verwies konkret auf die Gaskrisen in den Jahren 2008, 2009 und 2014 hin, in denen Moskau bereits gezeigt hatte, dass es durchaus bereit ist, Gas als politisches Druckmittel zu verwenden.
Zu einem Überdenken der Strategie der Bundesregierung führten diese Hinweise nicht. Das Wirtschaftsministerium kam zu dem Schluss, dass es «keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung der Gasversorgungssicherheit» gäbe.
Gasdrosselung ausgeschlossen
Die Autoren des Berichtes schlossen ausserdem aus, dass die Liefermenge von Gazprom gedrosselt werden könne, da der Netzbetreiber «grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge» hätte. Eine Fehleischätzung, wie der Lieferstopp über Nord Stream 1 zeigte, dem eine Drosselung vorausgegangen war.
Auch Warnungen aus der Ukraine waren ignoriert worden: Gazprom hatte im Herbst 2021 die Liefermengen durch die ukrainischen Pipelines gekürzt. Besonders brisant ist vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine, dass das Papier auch die damals verbreitete Sorge aufgreift, eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 könne zu einem Ende des Gastransports durch das Land führen.
Da der Weg durch die Ukraine «für die Versorgungssicherheit der EU nicht zwingend erforderlich» sei, sahen die Experten in diesem realistischen Szenario ungeachtet des ukrainischen Schicksals keine Gefahr.
Auch die aktuelle deutsche Regierung unter Olaf Scholz sah zunächst keinen Grund, die geplante Inbetriebnahme zu stoppen. Erst am 22. Februar – zwei Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – wurde die Zertifizierung von Nord Stream 2 gestoppt.