Nahost Blutigster Tag in Gaza seit 2014: Sorge vor neuem Krieg mit Israel wächst

von Sara Lemel und Saud Abu Ramadan, dpa

15.5.2018

Während in Jerusalem die Eröffnung der US-Botschaft gefeiert wird, kommt es an Israels Grenze zum Gazastreifen zum schlimmsten Blutvergiessen seit Jahren. Das Eskalationspotenzial ist gross.

Gaza trägt Trauer: Nach dem blutigsten Tag in dem Palästinensergebiet seit dem Krieg 2014 begraben die Menschen am Dienstag ihre Toten. Mindestens 60 Palästinenser sind bei Massenprotesten an Israels Grenze von israelischen Soldaten getötet worden, darunter mehrere Minderjährige - während Israel und die USA in Jerusalem die Eröffnung der US-Botschaft feierten. Der Blutzoll erscheint unfassbar hoch: An einem Tag allein kamen mehr Menschen ums Leben als in den ganzen sechs Wochen seit Beginn des «Marsches der Rückkehr» am 30. März.

Tausende Palästinenser nehmen am Dienstag an Begräbniszügen teil. Sie tragen Särge auf den Schultern, die in die grüne Fahne der im Gazastreifen herrschenden Hamas gewickelt sind. «Tod Israel!» rufen wütende Teilnehmer. Zehn der 60 Toten waren nach Angaben aus dem Gazastreifen Hamas-Mitglieder.

«Die Juden sind Verbrecher, und sie verstehen nur die Sprache der Gewalt», ruft der 25-jährige Chaled. «Früher oder später werden wir uns rächen.»

Warum ist die Lage wieder so dramatisch eskaliert?

Warum ist die Lage in dem dicht besiedelten Küstenstreifen mit knapp zwei Millionen Einwohnern wieder so dramatisch eskaliert? Kommt jetzt der nächste Krieg?

Vordergründig protestierten die Gaza-Einwohner gegen den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Der umstrittene Schritt von US-Präsident Donald Trump facht den Zorn der Palästinenser an, die am Tag der Nakba (Katastrophe) auch der Flucht und Vertreibung von rund 700'000 Palästinensern im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 gedenken.

Viele Experten verweisen jedoch auf tiefer liegende Gründe, nach mehr als einem Jahrzehnt der Blockade durch Israel und Ägypten und dem Scheitern einer innerpalästinensischen Versöhnung. «Die Palästinenser laufen nicht wegen der Botschaft oder wegen der Hamas in ihren Tod», sagt Jariv Oppenheimer von der Organisation Peace Now. «Die Palästinenser laufen in ihren Tod, weil sie hungrig, arbeitslos, ohne Trinkwasser und Strom sind, weil ihr Leben nichts wert ist.»

Er ruft Israel dazu auf, Verhandlungen über eine Aufhebung der Blockade im Gegenzug für eine langfristige Waffenruhe mit der im Gazastreifen herrschenden Hamas aufzunehmen. Die radikalislamische Organisation hat sich allerdings die Zerstörung Israels auf die Fahne geschrieben und wird von Israel, EU und USA als Terrororganisation eingestuft. Israel begründet die Blockade mit Sicherheitserwägungen.

Angriffstunnel der Hamas wurden zerstört

Der «Marsch der Rückkehr» sollte nach Willen der zivilen Organisatoren ein friedlicher Protest sein. Doch die Hamas nutzt die Proteste für ihre eigenen Ziele, hat sozusagen «aufgesattelt». Während die Demonstrationen in der zweiten Reihe eher Volksfestcharakter haben, nähern sich Gewalttäter der Grenze und greifen Soldaten mit Steinen, Brandflaschen und Sprengsätzen an. Israel will sie mit allen Mitteln daran hindern, die Grenze zu durchbrechen, weil es Anschläge auf grenznahe israelische Ortschaften befürchtet.

Die Hamas setze auf die Proteste, weil sie ihre strategische Waffe gegen Israel verloren habe, schreibt ein Kommentator der Zeitung «Maariv» - die Angriffstunnel, in die die Organisation hunderte Millionen Dollar investiert habe. Israel hat seit Oktober neun davon zerstört. Die Hamas habe nun «die Macht der Volksproteste entdeckt».

Aiman Abu Schawisch, ein 17-Jähriger aus Gaza, sieht den Einsatz von Gewalt aber kritisch. Blutige Proteste wie am Montag seien «total falsch», meint er. Mit friedlichen Protesten könne das palästinensische Volk «eine Botschaft an die Welt senden, damit sie ihm zur Seite steht». Es sei dagegen «nutzlos», mit Steinen gegen eine hochmoderne Armee ankämpfen zu wollen, sagt der Teenager.

Israel zahlt hohen politischen Preis für das Blutvergiessen

Die 60-jährige Om Ibrahim Hussein aus Gaza sagt, sie erkläre Jugendlichen: «Wenn ihr mit euren Tod Palästina und Jerusalem befreien würdet, dann wäre es gar kein Problem - im Gegenteil, wir wären glücklich, weil unsere Opfer Früchte tragen.» Sie sehe aber nicht, dass die Proteste die Palästinenser diesem Ziel näher bringen. «Ich kann nicht akzeptieren, dass all diese jungen Menschen getötet werden, während die (Hamas)-Anführer ihre Interessen auf Kosten des Bluts dieser jungen Männer verfolgen.» Sie hoffe, «dass wir eines Tages in Frieden leben und all dies vorbei ist».

Ihr erklärtes Ziel, einen Massensturm über die Grenze auf israelisches Gebiet, hat die Hamas bisher nicht erreicht. Die Armee hat an der Grenze positionierte israelische Scharfschützen nach eigenen Angaben angewiesen, nur nach Warnungen zu schiessen - und dann nur auf die Beine. Doch nicht nur Gewalttäter kommen zu Tode. Auch zwei palästinensische Journalisten wurden erschossen.

Der ehemalige US-Botschafter Dan Shapiro sieht die Hauptverantwortung für das Blutvergiessen im Gazastreifen dennoch bei der Hamas. «Sie haben diese Aktivitäten organisiert, bei denen sich ganz eindeutig gewalttätige Aktivisten unter Zivilisten mischen.»

Israel zahlt jedoch einen hohen politischen Preis für das Blutvergiessen, das international schärfste Kritik ausgelöst hat. Die Türkei und Südafrika haben ihre Botschafter für Konsultationen abgezogen, in Irland wurde der israelische Botschafter einbestellt.

Kommt es zum 4. Krieg zwischen Israel und der Hamas?

Kommt es jetzt zum vierten Krieg zwischen Israel und der Hamas binnen zehn Jahren? Wenn die Zahl der Toten weiter steigt, könnte die Hamas wieder Raketenangriffe auf Israel erlauben, erwarten Kommentatoren. Dann werde Israel wiederum noch härter reagieren. Israels Sicherheitsbehörden hätten der Hamas-Führung über den ägyptischen Geheimdienst die Drohung übermittelt, sie könnten wieder zum Ziel gezielter Tötungen werden, sollten sie die Gaza-Einwohner weiter zu gewaltsamen Protesten antreiben, schreibt die regierungsnahe «Israel Hajom».

Ex-Botschafter Shapiro meint, die Lage im Gazastreifen könne sich langfristig nur verbessern, wenn die Hamas-Herrschaft beendet werde. Bei Vorlage seines Friedensplans für Nahost müsse Trump auf eine Zwei-Staaten-Lösung und Jerusalem als Hauptstadt zweier Staaten setzen, meint er.

«Gaza ist in der Krise, Gaza braucht eine Lösung», sagt auch der palästinensische Politikexperte Omer Schaban. «Wenn der Krieg nicht morgen ausbricht, dann kann es in einem Monat passieren.» Die desolate Situation im blockierten Gazastreifen bedrohe die Sicherheit in der gesamten Region. Es mangele an medizinischer Ausrüstung, sauberem Trinkwasser, die Arbeitslosigkeit sei extrem hoch. «Gaza ist nicht mehr zu retten, die internationale Gemeinschaft muss grundlegend eingreifen», sagt er. «Gaza ist nicht mehr bewohnbar, es braucht eine Intervention, um zu überleben.»

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