Ausland-Experte Erich Gysling «Boris Johnson spielt ein unfaires Spiel mit den Briten»

Von Gil Bieler

23.7.2019

Nun steht es fest: Boris Johnson wird nächster britischer Premier – und soll das Land aus der EU führen. Der Publizist und Ausland-Experte Erich Gysling befürchtet, dass das im Chaos endet. 

Seit Dienstagmittag herrscht Klarheit, wer Nachfolger von Premierministerin Theresa May wird: Boris Johnson hat sich in der parteiinternen Wahl durchgesetzt. Er wird neuer Chef der Konservativen Partei und damit der Regierung. Bereits morgen Mittwoch soll Königin Elizabeth II. ihn mit der Regierungsbildung beauftragen.

Und Johnson muss liefern: Er hat versprochen, den EU-Austritt zum angestrebten Termin am 31. Oktober durchzuziehen – mit oder ohne Deal. Was das für das Königreich bedeutet? «Bluewin» hat beim Publizisten und Journalisten Erich Gysling nachgefragt. 

Herr Gysling, kann Boris Johnson als neuer Premierminister in den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel überhaupt noch etwas reissen?

Das ist sehr schwierig zu sagen. Der Wille dazu ist bei ihm wahrscheinlich gar nicht vorhanden, denn er verkauft sich als Showman ja so, als könnte er einen Brexit auch ohne Abkommen mit der EU durchbringen und als ob das keine weiteren Konsequenzen für Grossbritannien hätte. Das ist eine Illusion! Johnson spielt ein Spiel mit der eigenen Bevölkerung, das nicht fair ist.

Am angestrebten Austritt per 31. Oktober will er festhalten, auch wenn es auf einen No-Deal-Brexit hinauslaufe. Man könne schliesslich noch nachverhandeln.

Ja, aber er ist ungefähr der Einzige, der das glaubt. Der harte Kern einer extremen Fraktion in der konservativen Partei mag diese Meinung teilen, aber das ist eine winzige Minderheit.

Trotzdem: Wenn es bis zum Stichtag keine Einigung mit Brüssel gibt, was passiert dann?

Wenn er weiterhin auf diesem Datum beharrt, dann kann dieser No-Deal-Brexit tatsächlich eintreten. Und was dann passieren wird, wagt sich keiner auszumalen. Zumindest in einer Übergangszeit wird es Chaos geben. Die Luftverkehrsrechte der British Airways erlöschen in Europa, das muss alles neu ausgehandelt werden. Von heute auf morgen geht das nicht. Die ganzen Zollvorschriften müssen in Kraft gesetzt werden, um den Handel und das Reisen zwischen Europa und Grossbritannien administrativ auch nur halbwegs zu bewältigen – das wird ein Riesenchaos geben, das schleckt keine Geiss weg.

Erich Gylsing: Der Publizist und Journalist (u. a. SRF-«Tagegsschau») ist Experte in Europa- und Nahost-Fragen.
Erich Gylsing: Der Publizist und Journalist (u. a. SRF-«Tagegsschau») ist Experte in Europa- und Nahost-Fragen.
Bild: Keystone/Gaetan Bally

Wieso, glauben Sie, versteift sich Johnson dann überhaupt auf diese Deadline?

Wahrscheinlich glaubt er immer noch, dass der Druck, den er gegenüber Brüssel ausübt, dazu führen wird, dass die EU auf irgendeine Weise einknickt. Das wird sie aber nicht tun, allein schon aus Rücksicht auf Irland. Man sagt ja gern, auch in der Schweiz, die EU sei ein zentralistisches Gebilde und berücksichtige die Interessen der kleinen Mitgliedsländer zu wenig. Das stimmt aber nicht, das hat diese ganze Brexit-Verhandlung gezeigt. Man nimmt sogar gewaltig Rücksicht auf Irland.

Mit der Krise im Golf von Oman wartet auf den neuen Premier ein weiteres heisses Eisen. Glauben Sie, er hat das nötige diplomatische Geschick dafür?

Bisher war der Begriff «diplomatisches Geschick» für ihn jedenfalls eher unangebracht. Man muss aber klar sehen: Da ist nicht nur der britische Tanker, den die Iraner festhalten, sondern auch der iranische Tanker, den die Engländer bei Gibraltar festgesetzt haben. Wahrscheinlich auf Befehl der Amerikaner. Das ist eine höchst interessante Geschichte: In den EU-Richtlinien gibt es keinen Passus, der die Einfuhr von Waren nach Syrien verbietet. Es heisst nur, es dürfe nichts aus Syrien importiert werden. Das bedeutet: Der Export von Öl nach Syrien, der jetzt den Iranern angelastet wird, ist in keiner Bestimmung der EU geregelt. Und auch zeitlich gibt es da noch etwas Spannendes.



Was meinen Sie?

Am 4. Juli wurde der Tanker von den Briten vor Gibraltar festgesetzt. Nur einen Tag vorher, am 3. Juli, hat die Lokalbehörde von Gibraltar ihre Verordnung in Bezug auf dieses Thema geändert. Dann muss man nur noch zwei und zwei zusammenzählen: Die wussten, dass dieser Tanker kommt, und haben auf Druck der Amerikaner gehandelt. Und genau darauf berufen sich nun die iranischen Hardliner, wenn sie die Aktion gegen den britischen Frachter rechtfertigen. Wenn Boris Johnson in dieser Situation verhandeln will, muss er schon sehr viel diplomatisches Geschick an den Tag legen, doch das hat er bisher nie getan.

Dieser Artikel wurde nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses aktualisiert.

Die Bilder des Tages

Zurück zur Startseite