Brexit Britische Juden wollen deutschen Pass

AP/tjb

30.1.2019

Die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch (Mitte) posiert mit ihrer Tochter Maya Jacobs Lasker-Wallfisch und ihrem Enkelsohn Simon Wallfisch. 
Die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch (Mitte) posiert mit ihrer Tochter Maya Jacobs Lasker-Wallfisch und ihrem Enkelsohn Simon Wallfisch. 
Bild: DPA/AP/Markus Schreiber

Sie sind Juden, Abkömmlinge von Opfern des Holocaust und leben in Grossbritannien. Und nun veranlasst sie der geplante Brexit, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen – es ist kein leichter Schritt.

Simon Wallfisch wuchs in London auf. Er ist der Enkelsohn einer Auschwitz-Überlebenden, die schwor, niemals in das Land zurückzukehren, das sechs Millionen Juden umbrachte. Aber mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust hat Grossbritanniens geplanter Ausstieg aus der EU Wallfisch und Tausende andere Juden auf der Insel dazu gebracht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen – die ihren Vorfahren unter der Naziherrschaft weggenommen worden war.

«Das Desaster, das wir Brexit nennen, hat mich dazu veranlasst, einen Weg zu finden, meine und die Zukunft meiner Kinder zu sichern», sagt Wallfisch, ein bekannter Sänger und Cellist. «Um Europäer zu bleiben, habe ich die europäische Staatsbürgerschaft angenommen.»



Der 36-Jährige besitzt nun seit Oktober neben seinem britischen auch einen deutschen Pass. Damit kann er sich auch nach dem für Ende März geplanten Brexit frei in der dann auf 27 Staaten geschrumpften EU bewegen und arbeiten.

Eine schwierige Vergangenheit

Viele Briten mit Vorfahren aus anderen Teilen Europas haben sich um die Staatsangehörigkeit in anderen EU-Ländern beworben, um die Verbindungen zum europäischen Kontinent zu bewahren. Aber für Juden, deren Familien vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet waren, war diese Entscheidung komplexer: Sie mussten ihre langjährigen Überzeugungen und Sichtweisen zu Deutschland auf den Prüfstand stellen.

Wallfischs Grossmutter, Anita Lasker-Wallfisch, war 18 Jahre alt, als sie im Dezember 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz abtransportiert wurde. Dort allein ermordeten die Nazis mehr als eine Million Juden. Lasker-Wallfisch überlebte, weil sie dem Mädchen-Orchester im KZ angehörte. Als Cellistin musste sie klassische Musik spielen, während andere Juden in die Gaskammern geschickt wurden.

Im November 1944 wurde Lasker-Wallfisch von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht - etwa zur selben Zeit wie Anne Frank, die dort starb und deren Tagebuch weltberühmt wurde. Lasker-Wallfisch wanderte nach der Befreiung des Lagers durch britische Soldaten im April 1945 nach Grossbritannien aus, heiratete dort und brachte zwei Kinder zur Welt.

Den Hass überwinden

Ihre Karriere als bekannte Cellistin führte sie in verschiedene Teile der Welt, aber es dauerte Jahrzehnte, bis sie ihren Hass auf Deutschland genügend überwunden hatte, um wieder Fuss auf deutschen Boden zu setzen. Das war in den 1990er Jahren. Mittlerweile ist die heute 93-Jährige eine regelmässige Besucherin der Bundesrepublik, spricht mit Kindern in Deutschland über den Holocaust. Vergangenes Jahr hielt sie am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auch eine Rede vor dem Bundestag.

Dieses Jahr trat sie im Jüdischen Museum Berlin erstmals zusammen mit ihrem Enkel Simon und ihrer Tochter Maya Jacobs Lasker-Wallfisch auf. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des erweiterten Familienkreises musizierten sie und lasen aus Briefen von früher vor – ein Tribut an jene, die den Holocaust überlebten und jene, die starben.

Vor der Aufführung sassen die Angehörigen von drei Generationen im Umkleideraum des Museums auf einer Couch zusammen und schilderten der Nachrichtenagentur AP, was den beiden Jüngeren bei deren Entscheidung für den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft durch den Kopf ging. «Wir können nicht Opfer unserer Vergangenheit werden. Wir müssen etwas Hoffnung auf einen Wandel haben», sagte die 60-jährige Londoner Psychotherapeutin Maya Jacobs Lasker-Wallfisch, die Simons Tante ist. «Ich spüre auf eine merkwürdige Weise so etwas wie Triumph. Irgendwie schliesst sich der Kreis.»

«Eine gute Sache»

Ihr Antrag auf einen deutschen Pass läuft noch – einer von mehr als 3380, die seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 bei der deutschen Botschaft in London eingegangen sind. Davor waren es jährlich nur um die 20 solcher Ersuchen. Artikel 116 im deutschen Grundgesetz gestattet es Nachfahren von Nazi-Verfolgten, die zwischen 1933 und 1945 entzogene Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Für Jacobs Lasker-Wallfisch geht es dabei um mehr als nur Bewegungsfreiheit oder Geschäftsverbindungen innerhalb der EU. Es gebe andere, emotionalere Gründe, sagt sie. «Ich fühle hier (in Berlin) eine Lebendigkeit, die ich bisher nicht erfahren habe, aber das macht auch völlig Sinn, denn letztendlich bin ich Deutsche», erklärt sie. Und wenn das Land hinter dem Holocaust nun eines sei, das die Nachfahren der Opfer willkommen heisse, sei das «eine gute Sache».

Aber Anita Lasker-Wallfisch, die den Schrecken des Holocaust selber erfahren hat, bleibt skeptisch und pessimistisch. «Jüdische Menschen fühlen sich niemals sicher», sagt sie an ihre Tochter und ihren Enkel gerichtet. «Ich hatte die deutsche Staatsangehörigkeit – es hat mir keine Sicherheit gekauft.»

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