Xi Jinping statt Dalai Lama China drückt Kultur und Religion in Tibet seinen Stempel auf

Von Sam McNeil, AP

21.6.2021 - 00:00

Chinas Flagge steht über allem – auch in Tibet, dessen buddhistische Bewohner Peking kritisch beäugt.
Chinas Flagge steht über allem – auch in Tibet, dessen buddhistische Bewohner Peking kritisch beäugt.
Bild: Getty Images

Chinas Kommunistische Partei versucht, Tibet unter seiner Fuchtel zu halten. Dazu betreibt es eine gezielte Kampagne, die Einwohner von ihrer buddhistischen Kultur zu trennen – und zunehmend auch von ihrer Religion. Alles soll chinesischer werden.

Dutzende Tibeter, manche auf Krücken, umkreisen einen Schrein, folgen einem altehrwürdigen buddhistischen Ritual. Gelbe Gebetsfahnen flattern im Wind. Nicht weit davon entfernt, auf der anderen Strassenseite, verkündet ein rotes Banner ein neues Glaubenssystem, eines, das Chinas herrschende kommunistische Partei mit zunehmender Entschlossenheit durchzusetzen versucht.

«Xi Jinpings neue sozialistische Ideologie mit chinesischen Merkmalen ist der Leitfaden für die gesamte Partei und alle Nationalitäten im Kampf für die grosse Erneuerung Chinas», heisst es in tibetischer und chinesischer Schrift mit Bezug auf Chinas politischen Führer, der bemüht ist, praktisch jedem Lebensbereich in seinem grossen Land seinen Stempel aufzudrücken. Das gilt seit jüngster Zeit zunehmend auch für die Religion, sowohl in Zentralchina als auch an den Rändern wie Tibet. 

Die Partei treibt ein Programm voran, das tibetische Leben zu auf Chinesisch zu trimmen, das heisst, mit der chinesischen Kultur zu durchtränken. Das geschieht auf verschiedenen Wegen, alle darauf ausgerichtet, die Tibeter von ihrer Sprache, ihrer eigenen Kultur zu trennen – und insbesondere von ihrer Hingabe zum Dalai Lama, Tibets traditionellem spirituellem Führer, der seit 1959 im Exil lebt. 

Einblicke gibt's nur mit staatlicher Kontrolle

Dass China bei seiner Kampagne offenbar gut vorankommt, macht im sonnenüberfluteten Innenhof des Jokhang-Tempels, einer der heiligsten Stätten des tibetischen Buddhismus, der leitende Mönch Lhkpa deutlich. Der Dalai Lama sei nicht Tibets spiritueller Führer, sagt er. Gefragt, wer es denn sei, antwortet er: «Xi Jinping.»

Gebetsmühlen in Tibets Hauptstadt Lhasa: China wacht streng darüber, wie die Tibeter ihre Religion ausüben.
Gebetsmühlen in Tibets Hauptstadt Lhasa: China wacht streng darüber, wie die Tibeter ihre Religion ausüben.
Bild: Getty/AFP/Hector Retamal

Journalisten der Nachrichtenagentur AP haben an einer seltenen und strikt kontrollierten Medientour nach Tibet teilgenommen, die das betonen sollte, was die Regierung als soziale Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung der Region nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft bezeichnet. Stationen waren Klöster, Tempel, Schulen, Projekte zur Armutsbekämpfung und Touristenattraktionen. Das deutet auf die wachsende Überzeugung der Partei hin, dass sie dabei ist, den globalen Meinungsstreit in Sachen Tibet zu gewinnen.

Massiver Druck zur Anpassung

Peking erklärt, dass die Region seit Langem ein Teil Chinas gewesen sei und die Kommunisten Hunderttausende des Lesens und Schreibens unkundige Leibeigene befreit hätten, als sie die herrschende Theokratie 1951 stürzten. Tibeter im Ausland sagen, dass die Region tatsächlich über Jahrhunderte hinweg unabhängig gewesen sei, und werfen China vor, Tibets buddhistische Kultur und Sprache ausradieren zu wollen und seine natürlichen Ressourcen zu plündern. Tibetische Menschenrechtsgruppen sprechen von anhaltenden häufigen Festnahmen, einer erdrückenden Sicherheitspräsenz und massivem Druck, sich in Chinas Han-Mehrheit zu integrieren.

Ein Schwerpunkt der Medientour war es, vorzuführen, wie weit die wirtschaftliche Entwicklung vorangeschritten sei. Im Modelldorf Baji östlich der Hauptstadt Lhasa erzählten Einwohner, wie sehr sich ihr Leben durch die Kampagne gegen Armut gewandelt habe. Die Zeiten hätten sich geändert und damit die Bedürfnisse, sagt der 25-jährige Tsering Yudron, ein Buchhalter. «Leute brauchten in alten Zeiten religiösen Glauben als ihre spirituelle Nahrung, aber jetzt brauchen wir das nicht.»

Die Regierung weist auf die Milliardensummen hin, die sie in Strassen, Flughäfen, Eisenbahnlinien, Schulen und Krankenhäuser investiert habe. Das habe die Lebenserwartung verdoppelt, Strom, Jobs und Chancen in eine Region gebracht, die lange hinterhergehinkt sei. «Die Leute führen jetzt ein besseres Leben und leben in Zufriedenheit. Ein brandneues sozialistisches Tibet hat Gestalt angenommen», heisst es in einem Regierungsbericht über Tibet aus dem Jahr 2019.

Die Auswirkungen auf die traditionelle Kultur sind gross. Wie Christen und Muslime sind tibetische Buddhisten zunehmend gedrängt worden, ihre Religion zu «sinisieren», chinesisch zu formen. Menschenrechtsgruppen zufolge stehen Einwohner unter enormem Druck, sich gegenseitig zu beobachten, und Verstösse könnten zu langen Gefängnisstrafen führen.

China will nächsten Dalai Lama selber berufen

Die Partei habe ein System entwickelt, Tibeter durch deren Glauben zu kontrollieren, sagt Robert Barnett, ein Tibet-Experte an der School of Oriental and African Studies in London. Insbesondere seit verbreiteten Protesten gegen die Regierung im Jahr 2008 werde versucht, «Liebe zur Kommunistischen Partei in diese tibetischen Gemüter zu bringen, wenn sie noch Kinder sind», so Barnett. In Universitäten über Tempel bis hin zu Privathäusern prangen jetzt oft Xi-Porträts an den Wänden, wo einst Bilder des Dalai Lama hingen. Tibetischer Buddhismus sollte davon geleitet sein, sich der sozialistischen Gesellschaft anzupassen, sagte Xi bei einer Tibet-Konferenz in Peking.

China hat den Dalai Lama, der vor dem Hintergrund eines gescheiterten Aufstandes gegen die chinesische Herrschaft aus Tibet geflohen war, zunehmend verteufelt. Während er sagt, dass er lediglich eine bedeutsame Autonomie Tibets unter chinesischer Herrschaft wolle, wirft ihm Peking vor, Terrorismus zu unterstützen und auf eine Abspaltung Tibets von China hinzuarbeiten. 

Da der Dalai Lama bald 86 Jahre alt wird, wendet sich die Aufmerksamkeit zunehmend der Frage seiner Nachfolge oder – gemäss traditionellem Glauben – seiner Wiedergeburt zu. Der Nachfolger wird stets von ranghohen Klosterschülern anhand von bestimmten Merkmalen, spirituellen Zeichen und Visionen identifiziert. Aber China sagt, nur Peking könne den nächsten Dalai Lama berufen, in einer Zeremonie, bei der aus einer goldenen Urne mit den Namen mehrerer Kandidaten – die von der Regierung abgesegnet sind – einer herausgezogen werde.

China sei nicht daran gelegen, dass es keinen religiösen Führer mehr gebe, erklärt Barnett. Es wolle eine spirituelle Führungsperson, die als sein Stellvertreter agiere, um Tibet unter dem Daumen zu halten. Alles gehe darum, «den nächsten Dalai Lama zu kontrollieren, auch wenn du den jetzigen nicht kontrollieren kannst».

Von Sam McNeil, AP