Allein unterwegs Das schwere Schicksal von Flüchtlingskindern an der US-Grenze

AP/twei

4.4.2021

Täglich treffen tausende Migranten an der Südgrenze der USA ein, unter ihnen viele unbegleitete Kinder. Die Risiken für die Jungen und Mädchen sind gewaltig.

AP/twei

4.4.2021

Eine Grenzmauer. Schleuser. Kleine Kinder, die in der Dunkelheit auf US-Gebiet fallengelassen werden. Ein unscharfes Video, das am Mittwoch von den US-Behörden veröffentlicht wurde, macht in wenigen Sekunden die Gefahren für Migrantenkinder an der Südgrenze des Landes deutlich. Von den Menschen sind in den dramatischen Szenen nur die weissen Umrisse zu sehen.

So lässt ein Mann nahe Santa Teresa im US-Staat New Mexico ein Kleinkind auf der anderen Seite einer mehr als vier Meter hohen Absperrung herab. Er hält das kleine Mädchen an einem Arm fest und lässt dann los. Das Mädchen landet auf den Füssen und fällt dann nach vorne mit dem Gesicht auf die Erde. Der Schleuser macht das gleiche mit einem anderen, etwas grösseren Kind, das ebenfalls zuerst auf den Füssen und dann auf dem Po landet. Dann laufen der Schmuggler und ein weiterer Mann in die mexikanische Wüste davon.



Die von einer ferngesteuerten Kamera aufgezeichnete einfache Szene ist ein Extremfall. Aber sie sagt viel aus über die Dramen, die sich vor dem Hintergrund einer steigenden Zahl eintreffender Migranten, darunter vieler Kinder, an der Grenze abspielen. Dahinter steht eine grosse Verzweiflung: eine Familie, die ihre Kinder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sie einem solchen Risiko aussetzt. Hinzu kommt die Abgebrühtheit der Schleuser, die Kinder wie Stoffpuppen behandeln.

Schauplatz ist eine Absperrung, für die so viele gekämpft haben – für manche ein Symbol amerikanischer Stärke, für andere ein völlig unamerikanisches Phänomen. Trotz seiner Höhe ist der Zaun relativ leicht zu überwinden.

Kommt eine Reform des Einwanderungsrechts?

In den Augen von Zuwanderungsbefürwortern unterstreichen Szenen wie auf dem Video die Notwendigkeit, das Einwanderungsrecht zu reformieren. Sie fordern, Familienzusammenführungen stärker in den Fokus zu rücken und legale Einwanderungen zu erleichtern. Gegner wiederum sehen in solchen Bildern die Bestätigung, dass die Rechtsstaatlichkeit der USA nicht respektiert werde.

Eine Reform der Einwanderungspolitik dürfe nicht einmal in Betracht gezogen werden, solange solche Dinge geschehen, machen sie geltend. Und Amerikaner jeglicher politischen Couleur dürften darüber debattieren, welche Umstände Eltern zu einem solchen Vorgehen bewegen können.

Alleine auf weiter Flur: Mehr als 9000 unbegleitete Kinder zählten Grenzbehörden im Februar – wie dieser Junge in einer Flüchtlingsunterkunft in Dallas.
Alleine auf weiter Flur: Mehr als 9000 unbegleitete Kinder zählten Grenzbehörden im Februar – wie dieser Junge in einer Flüchtlingsunterkunft in Dallas.
Bild: Keystone / AP Photo / Dario Lopez-Mills, Pool

Unterdessen treffen an der US-mexikanischen Grenze jeden Tag Tausende Migranten aus Mexiko, Zentralamerika und weiter südlich gelegenen Ländern ein. Viele flüchten vor Gewalt oder anderen Nöten in ihrer Heimat. Andere hoffen einfach nur auf ein besseres Auskommen. Sie kommen per Boot an, waten zu Fuss durch den Fluss Rio Grande in Texas oder treffen auf dem Landweg in Kalifornien, Arizona und New Mexico ein.

Viele Kinder sind alleine unterwegs. Im Februar zählten die Grenzbehörden mehr als 9000 unbegleitete Jungen und Mädchen, so viele wie noch nie seit Mai 2019. Damals waren 11'000 Kinder ohne Eltern an die Grenze gekommen.

Kinder dürfen in der USA bleiben

Anders als ihre Väter und Mütter in vielen Situationen dürfen alle unbegleiteten Minderjährigen in den USA bleiben. Das hat viele Eltern dazu bewogen, ihre Kinder alleine auf den Weg nach Amerika zu schicken oder sie nur bis an die Grenze zu begleiten. Die meisten Mädchen und Jungen landen zumindest vorübergehend in Aufnahmezentren, die derzeit stark überfüllt sind.

Bei den Kindern auf dem Video handelt es sich nach Angaben der Grenzbehörden um zwei Schwestern im Alter von drei und fünf Jahren aus Ecuador. Sie wurden in gutem Gesundheitszustand aufgefunden, in ein Krankenhaus gebracht und untersucht. Am Donnerstag befanden sie sich noch in einer temporären Unterbringungseinrichtung des Grenzschutzes, bevor ihnen ein dauerhafter Platz zugewiesen werden sollte. Die Mutter der Mädchen ist in den USA und die Behörden stehen mit ihr in Kontakt, wie ein Behördensprecher am Donnerstag der AP sagte.

Viele der allein ankommenden Kinder haben Verwandte in den USA. Wenn sie – wie vermutlich die beiden kleinen Mädchen aus Ecuador – zu jung sind, um sich an Namen oder Telefonnummern zu erinnern, haben sie zum Teil Kontaktinformationen auf Papier bei sich. Manchmal sind die Daten auch auf die Körper der Kinder geschrieben. Nach ihrer Registrierung werden sie üblicherweise in Obhut gegeben, häufig bei einem Elternteil oder einem engen Verwandten.

Viele Kinder werden von ihren Eltern in die USA geschickt, in der Hoffnung, dass sie bei Verwandten unterkommen.
Viele Kinder werden von ihren Eltern in die USA geschickt, in der Hoffnung, dass sie bei Verwandten unterkommen.
Bild: AP Photo/Dario Lopez-Mills, Pool

Skrupellose Schleuser und andere Risiken

Darauf hoffen diejenigen, die die Kinder auf den Weg schicken: eine Zusammenführung mit Angehörigen in den USA. Doch die Risiken bis dahin sind gewaltig: Sie ergeben sich aus dem unbegleiteten Reisen und der tatsächlichen Grenzüberquerung, ob durch einen Fluss, in einem überfüllten Fahrzeug oder zu Fuss durch die Wüste und über eine Mauer. Erst im vergangenen Jahr kam in der Gegend von Santa Teresa, wo die Mädchen gefunden wurden, eine Frau beim Sturz von einer Absperrung ums Leben.

Und nicht zuletzt kann die Gefahr von skrupellosen Schleusern ausgehen. «Menschen, die sich überlegen, die Dienste von Schleusern in Anspruch zu nehmen, müssen wissen, dass Schleusern nicht das Wohl der Kinder am Herzen liegt», erklärt Grenzschutzsprecher Roger Maier. «Es ist insgesamt zu gefährlich.» Mit Blick auf die Mädchen aus Ecuador ergänzt er: «Wenn das nicht in einem überwachten Gebiet passiert wäre, wären diese Kinder auf sich allein gestellt gewesen.»