Abhörskandal in Dänemark «Wir haben bis jetzt nur die Spitze des Eisbergs gesehen»

Von Philipp Dahm

1.6.2021

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (links) und Kanzlerin Angela Merkel gestern bei einer virtuellen Pressekonferenz: Paris und Berlin sind Opfer von Lauschangriffen geworden.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (links) und Kanzlerin Angela Merkel gestern bei einer virtuellen Pressekonferenz: Paris und Berlin sind Opfer von Lauschangriffen geworden.
KEYSTONE

Die Affäre um US-Spionage bei europäischen Verbündeten hat vermutlich sehr viel grössere Dimensionen. Pikant: Der Lauschangriff begann unter der Ägide des damaligen Vizepräsidenten Joe Biden.

Von Philipp Dahm

Als sich Edward Snowden 2013 an die Öffentlichkeit gewandt hat, stellte sich – spätestens – auch den Verantwortlichen in Kopenhagen eine Frage: Wenn es stimmt, was der Whistleblower behautet, hören die USA in Dänemark vielleicht auch Verbündete ab?

Immerhin kooperiert die National Security Agency (NSA) seit 1947 mit dem Verteidigungsnachrichtendienst, dem Forsvarets Efterretningstjeneste (FE). Die Geheimdienste betreiben eine Basis zur elektronischen Aufklärung nahe Kopenhagen und einen Horchposten nahe Hjørring in Jütland.

Lage des Horchpostens nahe Hjørring in Dänemark.
Lage des Horchpostens nahe Hjørring in Dänemark.
Karte: Google Earth

Auch bei den Unterseekabeln half die NSA dem FE: Im Gegenzug für ihre Expertise durften die Amerikaner die Anlagen nach Gutdünken nutzen. Nach Snowdens Enthüllungen galt es für Dänemark nun zu klären, wie gut jenes Dünken tatsächlich war: Die Ergebnisse werden 2015 in der «Operation Dunhammer» (Operation Rohrkolben) festgehalten.

Der Inhalt ist hochbrisant: Er bestätigt, dass die NSA über die dänischen Kommunikationsknoten im grossen Stil spioniert hat. Dabei wurden nicht nur deutsche Verbündete abgehört, sondern auch französische, norwegische und schwedische Spitzenpolitiker. Nicht zuletzt eigene Volksvertreter und Waffenhersteller waren Ziel der Lauschangriffe.

Stützpunkt zur elektronischen Aufklärung: Die Sandagergård Station nahe Kopenhagen ist Teil des weltumspannenden Echolon-Netzwerks, das von den Geheimdiensten der USA, Kanadas, Grossbritanniens, Australiens und Neuseelands unterhalten wird.
Stützpunkt zur elektronischen Aufklärung: Die Sandagergård Station nahe Kopenhagen ist Teil des weltumspannenden Echolon-Netzwerks, das von den Geheimdiensten der USA, Kanadas, Grossbritanniens, Australiens und Neuseelands unterhalten wird.
Bild: Forsvarets Efterretningstjeneste

Kein Wunder, dass diese unangenehmen Ergebnisse erst mal in der Schubladen verschwanden: Nur gut eine Handvoll Personen kannte den Bericht, dessen Inhalt dem parlamentarischen Kontrollorgan des FE vorenthalten wurde. In den folgenden Jahren bekam diese Aufsicht jedoch Material zugespielt.

NSA? «Da gibt es ein Muster»

Im November 2019 leitete die neue Verteidigungsministerin Trine Bramsen, die erst seit vier Monaten im Amt war, schliesslich eine Untersuchung ein. Der «Operation Dunhammer Rapport» wurde im August 2020 vorgelegt. Ministerin Bramsen greift daraufhin durch: Beim FE rollen Köpfe, doch die Verbündeten erfahren nichts von der US-Aktion.

Eine, die durchgreift: Verteidigungsministerin Trine Bramsen empfängt am 10. Dezember 2020 in Korsoer die dänische Fregatte Iver Huitfeldt, die von einem Auslandseinsatz zurückkehrt.
Eine, die durchgreift: Verteidigungsministerin Trine Bramsen empfängt am 10. Dezember 2020 in Korsoer die dänische Fregatte Iver Huitfeldt, die von einem Auslandseinsatz zurückkehrt.
KEYSTONE

Erst nachdem der Dänische Rundfunk in Kooperation mit weiteren europäischen Medien den Skandal öffentlich macht, fliegt die Affäre auf. Oder besser: Sie kommt ins Rollen. «Wir haben bis jetzt nur die Spitze des Eisbergs gesehen», sagt ein Journalist des Norddeutschen Rundfunks, der an den Recherchen beteiligt war, der «Deutschen Welle».

Überraschend sei die Lausch-Affäre nicht, meint Antonius Kempmann. «Man muss sehen, dass es da ein Muster gibt: Die NSA geht europäische Länder an und bietet Expertise, Soft- und Hardware im Gegenzug für Kooperation an. Sie locken die Staaten aus der europäischen Loyalität heraus und sagen Ihnen: ‹Wenn ihr mit uns zusammenarbeitet, werdet ihr eure Geheimdienst-Kapazitäten stark verbessern.›»

Enttäuschte Verbündete

Nicht zuletzt der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) selbst hat dieses Angebot angenommen – und auch die Schweiz kennt dieses Muster, wie die Affäre um die hiesige Crypto AG klargemacht hat. Die Frage ist, welche weiteren explosiven Informationen im «Dunhammer Rapport» schlummern: Der Druck auf die dänische Regierung steigt, die Dokumente zu veröffentlichen.

In Rot: Länder, in denen die USA und Deutschland durch Produkte der Crypto AG spioniert haben. Unter den hellgrünen Mitwisser-Ländern befindet sich auch die Schweiz.
In Rot: Länder, in denen die USA und Deutschland durch Produkte der Crypto AG spioniert haben. Unter den hellgrünen Mitwisser-Ländern befindet sich auch die Schweiz.
Karte:  WikiCommons/Malo95

Der kommt natürlich auch aus dem europäischen Ausland. In Schweden und Norwegen, die traditionell eng mit Dänemark verbündet sind, ist die Enttäuschung gross. «Wir wollen die Karten auf dem Tisch haben», forderte gestern der schwedische Verteidigungsminister Peter Hulqvist: Es sei «inakzeptabel, Verbündete auszuspionieren».

Andere auszuspionieren, «schafft mehr Misstrauen, als es Zusammenarbeit schafft», befand auch die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg dem Sender NRK. Auch mit Blick auf Washington: «Es ist keine schlaue Investition für die Vereinigten Staaten.» Frankreichs Präsident Macron fiel in den Chor der Kritiker ein und appellierte an seinen Amtskollegen Joe Biden, die «derzeitigen Praktiken» der USA offenzulegen.

«Niemand glücklicher als Putin«

Und Berlin? Kanzlerin Angela Merkel, die zwischen 2012 und 2014 persönliches Ziel von Lauschangriffen war, hält sich auffallend zurück. Deutschland forderte zwar zusammen mit Paris gestern nach einem Treffen «vollständige Offenheit», gab sich gleichzeitig aber auch nachgiebig gegenüber Kopenhagen. Die Erklärungen von Ministerin Bramsen hätten sie «beruhigt».

Der Hauskrach unter den Westmächten kennt aber auch einen Gewinner – und der sitzt im Osten, glaubt «Dagens Nyheter»: «Niemand kann über Enthüllungen wie diese glücklicher sein als Wladimir Putin», kommentierte die schwedische Zeitung. «Schweden nähert sich derzeit immer weiter sowohl der Nato als auch unseren nordischen Nachbarn an. Keiner dieser Kooperationen hilft es, wenn die USA Daten beschaffen, die Schweden nicht teilen will – und die Dänen helfen dabei bereitwillig.»

Und was ist mit dem Mann, der am Anfang dieser Geheimdienst-Skandals steht? «Ich hab's euch ja gesagt», wird sich Edward Snowden gedacht haben. Per Twitter erinnert der Whistleblower in seinem russischen Exil daran, wer in dem fraglichen Zeitraum im Weissen Haus am Drücker war: Vizepräsident war damals niemand anderes als Joe Biden, der jetzt im Weissen Haus die Fäden zieht.

Es bleibt abzuwarten, was der «Dunhammer Rapport» noch zutage fördert: Ein Ende dieses Skandals ist noch lange nicht in Sicht.