Vom «Schandmal» zum «Mahnmal» Das Schmährelief «Judensau» an Luthers Kirche darf bleiben

tafi/tmxh

18.6.2022

Antisemitische Schmähplastik darf bleiben

Antisemitische Schmähplastik darf bleiben

Der deutsche Bundesgerichtshof in Karlsruhe sieht den beleidigen und rechtsverletzenden Charakter des mittelalterlichen Reliefs an der Stadtkirche von Wittenberg durch Mahntafeln beseitigt. Der Pfarrer will trotzdem handeln.

17.06.2022

Ein antisemitisches Schmährelief an Martin Luthers Kirche muss nicht entfernt werden. Das sorgt in Deutschland für Kritik, wird vom Schweizer Israelitischen Gemeindebund aber als Chance zur Aufarbeitung gesehen.

tafi/tmxh

Hier predigte Martin Luther ab 1512 und hielt Weihnachten 1521 den ersten evangelischen Gottesdienst in deutscher Sprache mit Abendmahl in beiderlei Gestalt für die ganze Gemeinde ab: Die Stadtkirche Wittenberg im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt gilt als Mutterkirche der Reformation – mit einem sichtbaren Makel. An der südlichen Aussenwand befindet sich eine Schmähplastik aus dem 13. Jahrhundert, die sogenannte «Wittenberger Sau».

Das antijüdische Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert zeigt ein Schwein, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte (diese waren Teil der damals vorgeschriebenen «Judentracht», Anm. d. Red.) als Juden zu erkennen sind. Eine als Rabbiner geltende Figur hebt den Schwanz des Schweins und blickt ihm in den After. Schweine gelten im jüdischen Glauben als unrein.

Ein Kläger in Deutschland will, dass die Plastik von der Kirche entfernt wird. Er sieht in der «Judensau» nur ein Beispiel für viele Verfehlungen der Kirche im Umgang mit Juden.

Umfrage
Sollten historische antisemitische  Schmäh-Symbole generell entfernt werden?

Schandmal «tut jüdischen Menschen weh»

In dieser Woche hat das oberste Zivilgericht in Deutschland geurteilt: Die sogenante «Judensau» darf bleiben. Das Relief für sich betrachtet sei «in Stein gemeisselter Antisemitismus», hatte der Vorsitzende Richter Stephan Seiters vor der Urteilsverkündung klargestellt.

Durch eine Bodenplatte und einen Aufsteller mit erläuterndem Text habe die Kirchengemeinde das «Schandmal» aber in ein «Mahnmal» umgewandelt, befanden die Richterinnen und Richter am deutschen Bundesgerichtshof (BGH). Die Entscheidung stösst nicht nur in Deutschland auf viel Kritik und Unverständnis.

Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee erklärte: «Das Urteil des Bundesgerichtshofes ist nicht nur für Überlebende des Holocaust enttäuschend.» Dieses jahrhundertealte Schandmal an einem der wichtigsten Orte des Protestantismus belaste das Verhältnis zwischen Juden und Christen bis heute: «Es tut jüdischen Menschen weh und es empört sie.»

Schweizer Gemeindebund sieht Chance zur Aufarbeitung

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) mag auf Nachfrage von blue News den deutschen Entscheid nicht kommentieren. Dieser falle in den Zuständigkeitsbereich des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dessen Präsident Josef Schuster hält die Entscheidung, dass das Relief bleiben kann, für nachvollziehbar.

«Allerdings vermag ich der Begründung des BGH insofern nicht zu folgen, als nach meiner Auffassung weder die Bodenplatte noch der erläuternde Schrägaufsteller eine unzweideutige Verurteilung des judenfeindlichen Bildwerks beinhalten.» Die Kirche müsste sich aus Schusters Sicht klar zu ihrer Schuld bekennen und ihren jahrhundertelangen Antijudaismus verurteilen.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, sieht in «solchen alten Symbolen oder Darstellungen auch Chancen der Aufarbeitung und Wissensvermittlung zu Antisemitismus in der Vergangenheit», wie er blue News erklärt. «Es ist wichtig, dass sich die Gesellschaft damit auseinandersetzt, wie zum Beispiel die Kirche die jüdische Gemeinschaft ausgegrenzt und der Verfolgung Vorschub geleistet hat.»

Damit die antisemitische Aussage historischer Schmähwerke entkräftet wird, sind für Kreuther Kontextualisierung und Kommentierung entscheidend. «Erst dann kann ein solches Symbol überhaupt eine neue Bedeutung erlangen. Erst dann wird die Auseinandersetzung damit erst möglich. Erst dann kann auch ein Lernen aus der Geschichte stattfinden und können moderne und aktuelle Formen von Antisemitismus verstanden werden.»

Auch Martin Luther war ein Antisemit

Die Wittenberger Stadtkirchengemeinde bezeichnet die «Wittenberger Sau» als «ein schwieriges Erbe, aber ebenso Dokument der Zeitgeschichte». Es zeige die «die mittelalterliche Judenfeindlichkeit, zu der sich auch der Reformator Martin Luther hinreissen (sic!) liess». In seiner Hetzschrift «Von den Juden und ihren Lügen» (1543) rief Luther dazu auf, Synagogen zu verbrennen und Juden «aus unserm Lande» zu vertreiben.

Für den Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, ist derweil klar, «dass die gegenwärtige Informationstafel sowie das Mahnmal in Form einer Bodenplatte heute nicht mehr dem Anspruch genügen, die Wirkung der judenfeindlichen Schmähplastik an der Fassade zu brechen». Die Landeskirche werde die Stadtkirchengemeinde bei der Weiterentwicklung des Gedenkortes unterstützen.

Eine als «Judensau» bezeichnete umstrittene Schmähplastik an der Mutterkirche der Reformation im deutschen Wittenberg muss gemäss einem Urteil nicht entfernt werden.
Eine als «Judensau» bezeichnete umstrittene Schmähplastik an der Mutterkirche der Reformation im deutschen Wittenberg muss gemäss einem Urteil nicht entfernt werden.
Hendrik Schmidt/dpa

Mit Material der Nachrichtenagentur dpa.