Patrick Rohr zu Abes Ermordung «Ein kollektives Trauma wie Lady Di für Grossbritannien»

Von Alex Rudolf

8.7.2022

Weltweit Entsetzen nach tödlichem Attentat auf Abe

Weltweit Entsetzen nach tödlichem Attentat auf Abe

Der Tod von Japans früherem Regierungschef Shinzo Abe durch ein Attentat hat weltweit für Entsetzen gesorgt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb auf Twitter, das tödliche Attentat mache ihn «fassungslos und tief traurig».

08.07.2022

Japan-Kenner Patrick Rohr glaubt, dass das Selbstverständnis des Landes nach dem Attentat auf den Ex-Premierminister grundlegend erschüttert ist.

Von Alex Rudolf

Mit einer selbst gebastelten Waffe ermordet ein Attentäter den ehemaligen Regierungschef Japans Shinzo Abe während einer Wahlkampf-Veranstaltung. Auch für den ehemaligen SRF-Moderator, Kommunikationsberater und Journalisten Patrick Rohr, der längere Zeit in Japan gelebt und gearbeitet hat, ist dies ein Schock.

«Das wird ein kollektives Trauma für Japan, ähnlich wie es der Tod von Lady Di für Grossbritannien war», sagt Rohr. Darüber hinaus werde das Land in seinem Selbstverständnis als eines der sichersten Orte dieser Welt erschüttert. «Ich habe mich noch in einem Land so sicher gefühlt wie in Japan.»

So könne man beispielsweise in einem voll besetzten Starbucks mitten in einem der grössten Bahnhöfe Tokios den Computer, das Portemonnaie und das iPhone auf dem Tisch liegen lassen, wenn man auf die Toilette gehe. Das sei völlig normal.

«Man muss nicht befürchten, dass etwas gestohlen wird. Einerseits, weil die Japaner*innen grundanständige Menschen sind, andererseits weil der Dieb sein Gesicht verlieren würde, wenn er erwischt würde – das kommt dem sozialen Tod gleich.»

Patrick Rohr lebte und arbeitete teilweise in Japan.
Patrick Rohr lebte und arbeitete teilweise in Japan.
zvg: Nicolas Moritz

Welchen Einfluss wird Abes Ermordung auf die japanische Gesellschaft haben? Rohr kann sich gut vorstellen, dass Politiker*innen künftig bei solchen Auftritten besser geschützt werden. 

«Er war der am längsten regierende Premierminister und daher für viele wie ein Landesvater – auch aufgrund seiner Ausstrahlung.»

Im Unterschied zur Schweiz – die ebenfalls als eines der sichersten Länder der Welt gelte – werde in Japan Widerspruch nicht goutiert. Man wolle die anderen nicht stören. Heftige und kontroverse Debatten wie im Schweizer Parlament oder in der SRF-«Arena» gebe es in Japan daher nicht. 

Was gegen die Mehrheitsmeinung verstosse, werde unterdrückt. Dies lasse sich gut am Beispiel der Gegner*innen der Atomenergie illustrieren. «Demonstrationen sind zwar nicht verboten, aber sie werden von den Behörden so organisiert, dass sie wirkungslos werden», so Rohr. Er habe etwa eine Anti-Atom-Demonstration mit ein paar Tausend Teilnehmer*innen erlebt, die unter dem Vorwand der Sicherheit in Gruppen von je etwa 50 Teilnehmenden aufgeteilt wurde, wodurch die Demo überhaupt keine Kraft mehr gehabt habe.

«Ich fürchte, dass durch das Attentat auf Shinzo Abe künftig mit dem Verweis auf die Sicherheit noch weniger Widerspruch zugelassen wird.»

Warum wurde ausgerechnet Abe zur Zielscheibe des Attentäters? Wie ganz Japan rätselt auch Rohr: «Er war der am längsten regierende Premierminister und daher für viele wie ein Landesvater – auch aufgrund seiner Ausstrahlung», sagt er. Er habe dem Land nach Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs wieder zu Aufschwung verholfen.

«Eine kontroverse Person wie ein Trump oder Blocher war er nicht. Widerspruch gab es nur von der verschwindend kleinen Opposition», sagt Rohr. Für die Wahlen am kommenden Sonntag sagt Rohr Abes LDP einen Sieg voraus. «Die LDP wird nach diesem Attentat vermutlich sogar noch gestärkt aus den Wahlen hervorgehen. Der kollektive Schock wird Japan einen.»