Dauerdruck und Erschöpfung Ukrainische Soldaten sprechen über die Hölle von Awdijiwka

AP/toko

13.3.2024 - 00:00

Viktor Biliak, ein ukrainischer Infanterist der 110. Brigade mit seinen Kameraden. 
Viktor Biliak, ein ukrainischer Infanterist der 110. Brigade mit seinen Kameraden. 
Viktor Biliak/AP/Keystone

Ukrainische Soldaten berichten, wie sie die Monate vor dem Rückzug aus der umkämpften Stadt Awdijiwka erlebt haben. Die Verteidiger sollen an psychischer Erschöpfung und Munitionsknappheit gelitten haben.

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  • Im Februar musste die ukrainische Armee die strategisch wichtige Stadt Awdijiwka aufgeben.
  • Nun sprechen ukrainische Soldaten über den zermürbenden Abwehrkampf.
  • Zu schaffen machte den Soldaten neben der Erschöpfung insbesondere die Munitionsknappheit.

Monatelang und ohne Unterbrechung verteidigte eine Brigade einen Block von Industriegebäuden in Awdijiwka. Eine andere war fast seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen ihr Land in der ostukrainischen Stadt im Einsatz. Eine Ablösung gab es nicht, die Truppe war am Ende ihrer Kräfte.

Den vorstossenden russischen Soldaten hatten die Verteidiger immer weniger entgegenzusetzen, auch weil die Munition knapp wurde. Als das Durchhaltevermögen schon völlig geschwächt war, verschwand auch noch ein Bataillonskommandeur – unter undurchsichtigen Umständen. Dies geht aus Ermittlungsdokumenten hervor, die der Nachrichtenagentur AP vorliegen. Auch ein Soldat, der ihn begleitete, wurde seitdem nicht mehr gesehen. Ein anderer wurde tot aufgefunden.

«An diesen Ort gekettet»

Nahezu umzingelt und zahlenmässig weit unterlegen, mussten die ukrainischen Truppen schliesslich Mitte Februar den Ort in der Region Donezk räumen und dem Feind überlassen. Im Gespräch mit AP-Reportern schildern Soldaten, wie sie die Monate davor erlebten.

«Wir waren nicht so sehr körperlich erschöpft als vielmehr psychisch, so an diesen Ort gekettet», sagt Viktor Biljak aus der 110. Brigade. Er war seit März 2022 in der Region. Seine Einheit befand sich am südlichen Stadtrand von Awdijiwka. Normalerweise würden Befestigungen gegraben, erklärt Biljak. Aber es habe ständig russische Angriffe gegeben und er und seine Kameraden hätten ausser Handschaufeln nicht viel gehabt.

Auf eine ukrainische kommen neun russische Granaten

Eine Zeit lang funktionierte die Verteidigung. Die russischen Soldaten seien schlecht vorbereitet gewesen, sagt Oleh aus der 47. Brigade über seine Ankunft in Awdijiwka im Oktober. Doch Ende November merkten die Ukrainer, dass sich die Taktik verändert hatte. Die Russen warfen Gleitbomben – ungelenkte Waffen aus der Sowjetära, die mit einem Navigationssystem nachgerüstet wurden – und schickten Sprengstoffdrohnen, die in Gebäude vordringen können und mit Bewegungssensoren ausgestattet sind.

Die Ukrainer wehrten sich mit dem, was von ihren schwindenden Munitionsvorräten blieb. Auf jede Granate hätten die Russen mit acht oder neun reagiert, berichten die Männer. Oleh spricht von einem «Eintopf von Granaten».

Ukrainische Armee zieht sich unter Beschuss aus Awdijiwka zurück

Ukrainische Armee zieht sich unter Beschuss aus Awdijiwka zurück

STORY: Nach monatelangen Kämpfen ziehen sich die ukrainischen Truppen aus dem Ort Awdijiwka zurück. Laut Angaben des militärischen Oberbefehlshabers der Ukraine, Olexander Syrskyj sollen die Soldaten zu anderen Kampflinien verlegt werden, die erfolgsversprechender sind und stabilisiert werden müssen. Videoaufnahmen, die vom ukrainischen Militär am Samstag veröffentlicht wurden, sollen den Rückzug von Soldaten unter Beschuss aus der ostukrainischen Stadt zeigen. Für einen Teil des Videos konnte die Nachrichtenagentur Reuters den Standort anhand der Gebäude, des Strassenverlaufs und der Bäume bestätigen, die mit den Satellitenbildern des Gebiets übereinstimmten. Reuters war allerdings nicht in der Lage, das Datum zu verifizieren, an dem das Video gedreht wurde. Russlands Präsident Wladimir Putin beglückwünschte das Militär zur Einnahme von Awdijiwka. Auf der Internetseite des Kremls hiess es, Putin habe von Verteidigungsminister Sergej Schoigu einen Bericht über die Einnahme erhalten. Die russische Armee hatte zuletzt ihre Offensive auf die Stadt verstärkt und war von mehreren Seiten vorgerückt. Die ukrainischen Truppen leiden unter einem massiven Munitionsmangel. Um einer Einkesselung zu entgehen, wurden sie nun zurückgezogen. Die Einnahme von Awdijiwka gilt als einer der grössten Erfolge der russischen Armee seit längerer Zeit in diesem Krieg.

19.02.2024

«Ihre ständigen Angriffe erschöpften uns»

Unter dem Druck der russischen Angriffe zogen sich im vergangenen Herbst dann Hunderte ukrainischer Soldaten in die Kokerei von Awdijiwka zurück. Die Anlage aus der Sowjetzeit mit ihren vielen Gängen, Schienen und Tunneln schien eine gute Verteidigungsposition. Doch Anfang des Jahres wurde es auch dort eng für die ukrainischen Truppen.

Derweil fühlten sich viele der Soldaten im Stich gelassen, weil sie nicht ausgetauscht wurden und weil die Waffen ausgingen. Die russischen Angreifer hingegen schienen nach Eindruck der Verteidiger einen schier unerschöpflichen Vorrat zu haben. Angesichts des Dauerdrucks und fehlender Hilfe sei ein Rückzug in den Blick gerückt, sagt Oleh. «Ihre ständigen Angriffe erschöpften uns.»

Anfang der zweiten Februarwoche kam Verstärkung. Doch als die erfahrene 3. Angriffsbrigade an der Kokerei eintraf, hatten die Russen die Anlage schon weitgehend in die Zange genommen.

Sie wussten, dass es vorbei war

Am 9. Februar kamen ukrainische Offiziere in einem Kommandoposten ausserhalb von Awdijiwka zusammen, einige Kilometer von der Kokerei entfernt. Es soll eine hitzige Diskussion gegeben haben. Ein Kommandeur und zwei Soldaten verliessen den Ort mit dem Auto. Zwei der Männer verschwanden, der dritte wurde erschossen aufgefunden. Was passierte, liegt im Dunkeln. Die ukrainischen Behörden gehen nicht davon aus, dass der vermisste Kommandeur geheime Informationen bei sich trug.

Knapp eine Woche später, am 15. Februar, kam für die 110. Brigade der Befehl zum Rückzug an der Südflanke von Awdijiwka. Viktor Biljak war da seit fast zwei Jahren an Ort und Stelle gewesen. Früher wäre besser gewesen, sagt Biljak. Sie hätten schon länger gewusst, dass es vorbei sein würde. Die 3. Angriffsbrigade erhielt am nächsten Tag die Order zum Rückzug aus der Kokerei. Am 17. Februar erklärte Russland die Einnahme von Awdijiwka.