Bislang war Peking bei der Eindämmung der Pandemie recht erfolgreich. Bei Ausbrüchen wurden oft ganze Städte komplett isoliert – der wirtschaftliche Schaden blieb meist regional begrenzt. Die neue Corona-Mutation könnte die Regierung nun zu einem Umdenken zwingen.
Die Lage schien unter Kontrolle – Infektionsketten wurden konsequent nachverfolgt, betroffene Gebiete schnell abgeriegelt. Inzwischen ist aber auch in China die besonders ansteckende Delta-Variante des Coronavirus auf dem Vormarsch. Das Land erlebt den gravierendsten Ausbruch seit dem ersten Höhepunkt der Pandemie in Wuhan. Die im vergangenen Jahr so erfolgreiche Taktik kann die Ausbreitung diesmal offenbar nicht stoppen.
Das Motto der kommunistischen Führung hiess «Null Toleranz». Bei einerAnsteckung galt fast ausnahmslos strenge Quarantäne. Im Zweifel wurde in Kauf genommen, dass einzelne Städte und Regionen massiv darunter litten. Experten warnen jedoch, dass sich China angesichts der Delta-Variante etwas anderes ausdenken müsse, als stets einfach das Leben von Millionen Menschen praktisch zum Stillstand zu bringen.
Der aktuelle Ausbruch sei eine Art Stresstest für die Nation, schrieb Zhang Wenhong, ein in der Anfangsphase der Pandemie bekannt gewordener Arzt aus Shanghai, in einem Beitrag in den sozialen Medien. Die neue Lage könne aus seiner Sicht auch zu einem Strategie-Wechsel der Regierung führen. «Die Welt muss lernen, mit diesem Virus zu koexistieren», betonte Zhang, der auf der in China beliebten Mikroblogging-Plattform Sina Weibo drei Millionen Follower hat.
Asiatische Börsen erleben Achterbahnfahrt
Im vergangenen Jahr waren in China Städte mit insgesamt etwa 60 Millionen Einwohner zeitweise von der Aussenwelt abgeschnitten worden. Dies verursachte die stärksten wirtschaftlichen Einbussen seit fünf Jahrzehnten. Dank der strikten Massnahmen konnte die chinesische Wirtschaft aber bereits im März 2020, als viele andere Teile der Welt erst richtig von der Pandemie erfasst wurden, wieder hochgefahren werden.
An den Finanzmärkten wird aber offenbar befürchtet, dass die Delta-Variante die chinesische Strategie an ihre Grenzen bringen könnte – und damit Störungen der globalen Produktions- und Lieferketten zu erwarten wären. Die asiatischen Börsen sind in Unruhe. Mit den wichtigsten Aktienindizes in Shanghai, Tokio und Hongkong ging es in der vergangenen Woche zunächst bergab und dann wieder bergauf.
China müsse dazu übergehen, einerseits zwar mehr zu impfen und erkrankte Personen schnell zu behandeln, andererseits aber auch mehr Geschäfts-und Reisetätigkeit zu erlauben als bisher, sagt Xi Chen, ein auf den Gesundheitssektor spezialisierter Ökonom von der Yale School of Public Health. «Ich denke nicht, dass ‹Null Toleranz› aufrechterhalten werden kann», sagt Chen. «Selbst wenn man alle Regionen Chinas abschotten würde, könnten immer noch Menschen sterben. Und viele weitere könnten als Folge von Hunger oder dem Verlust von Arbeitsplätzen sterben.»
Regierung hält noch an Strategie fest
Von offizieller Seite gibt es in Peking allerdings noch keine Anzeichen für einen bevorstehenden Strategie-Wechsel. Die Krankheitsbekämpfung müsse «noch schneller, entschiedener, strenger, weitreichender und einsatzfähig» sein, sagte He Qinghua, ein Vertreter der Seuchenschutzagentur der Nationalen Gesundheitskommission, vor einer Woche bei einer Pressekonferenz.
Der grösste chinesische Corona-Ausbruch dieses Jahres geht laut Erkenntnissen der Behörden auf Mitarbeiter des Flughafens von Nanjing zurück, die am 10. Juli ein russisches Verkehrsflugzeug gereinigt hatten. Einige Reisende waren über die nordwestlich von Shanghai gelegene Metropole in die Touristenstadt Zhangjiajie in der zentralen Provinz Hunan geflogen. Zhangjiajie ist inzwischen ein Corona-Hotspot. Neue Fälle gibt es aber auch in Peking und weiteren Städten in mehr als zehn Provinzen.
Am Dienstag erklärte die Regionalregierung von Zhangjiajie, dass niemand die Stadt verlassen dürfe. Flüge nach Nanjing und der Nachbarstadt Yangzhou wurden ausgesetzt. Züge von diesen beiden sowie 21 weiteren Städten nach Peking wurden ebenfalls gestrichen. An Autobahnen in der Provinz Jiangsu, in der Nanjing und Yangzhou liegen, wurden Checkpoints errichtet, um Fahrer zu testen. In Peking und der südlichen Provinz Guangdong wurden die Menschen aufgefordert, nach Möglichkeit auf jegliche Reisen zu verzichten.
Hamsterkäufe wegen drohendem Lockdown
In Yangzhou sind laut der dort lebenden Studentin Zhou Xiaoxiao bereits einige Nahrungsmittel knapp geworden. In Erwartung eines Lockdowns hätten die Menschen Supermärkte leer gekauft, sagt sie. «Die Preise für Gemüse sind gestiegen. Mir macht das nichts aus. Aber für Familien, denen es nicht so gut geht und die kein Einkommen haben, ist das sehr problematisch.»
Insgesamt sind in China seit Mitte Juli mehr als tausend neue Infektionen gemeldet worden. Im Vergleich zu den Zahlen in den USA oder Indien, wo es täglich Zehntausende Ansteckungen gibt, mag dies wenig sein. Die Behörden sind aber gerade wegen ihres bisher so erfolgreichen Kurses alarmiert. Der aktuelle Ausbruch sei «eine ernsthafte Herausforderung» nach dem «hart errungenen Sieg des Landes im Kampf gegen die Epidemie», schrieb die von der Kommunistischen Partei kontrollierte Zeitung «The Global Times».
Die meisten der in Nanjing infizierten Personen seien geimpft gewesen, und nur in wenigen Fällen komme es zu schweren Krankheitsverläufen, sagte Yang Yi, die Leiterin der Intensivstation am örtlichen Krankenhaus der Southeastern University, dem chinesischen Nachrichtenportal «The Paper». Dies bedeute, dass «Impfungen schützen». Es gibt allerdings Bedenken, dass die in China entwickelten Vakzine weniger wirksam sein könnten als einige andere.
Die Chinesen müssten lernen, zumindest in den Regionen mit hohen Impfquoten und einer guten Gesundheitsversorgung «das Virus existieren zu lassen», sagt der Wirtschaftswissenschaftler Chen. Er denke aber nicht, dass sie sich dieser Tatsache nicht bewusst seien, fügt er hinzu. Vielmehr gehe er davon aus, dass sie «bereits darüber nachdenken».