Erdogan-Visite bei Merkel Der kranke Mann vom Bosporus sucht eine stärkende Frau in Berlin

sda/dpa/phi

28.9.2018

Recep Tayyip Erdogan ist in Berlin eingetroffen: Seine Türkei ist ökonomisch angeschlagen, steht unter Druck aus Washington und ist wohl deshalb auch kompromissbereit.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kommt mit vielen Erwartungen zu seinem ersten Staatsbesuch nach Berlin. Auf deutscher Seite ist die Liste kürzer und die Zurückhaltung grösser.

Ein Frühstück, ein Mittagessen, ein Staatsbankett und paar kurze Gespräche zwischen Pressekonferenz am Freitag und Moschee-Eröffnung am Samstag: Viel Zeit bleibt nicht für den Berg an Themen zwischen Deutschland und der Türkei, der modernen Nachfolgerin des historischen «Kranken Mann vom Bospurus».

Frank-Walter Steinmeier empfängt Recep Tayyip Erdogan mit militärischen Ehren im Schloss Bellevue.
Frank-Walter Steinmeier empfängt Recep Tayyip Erdogan mit militärischen Ehren im Schloss Bellevue.
Keystone

Gastgeber und Gast haben gleich mehrere Ziele für den ersten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten in Deutschland nach Jahren von Zank und Augenrollen. Zunächst soll der Staatsbesuch helfen, die Luft zu reinigen, soll zu einem leiseren und diplomatischeren Umgang miteinander führen.

Ende der «Megafon-Diplomatie»?

Die «Megafon-Diplomatie» müsse enden, sagt der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, am Donnerstag in einem Gespräch mit der regierungsnahen Zeitung «Daily Sabah». Wieder «miteinander und nicht übereinander» sprechen – das könnte gelingen.

Beide Seiten wollen die Normalisierung der Beziehungen, auch wenn der Bundespräsident höchstselbst sagt: Dorthin ist der Weg noch weit. Aber: Es stehen auch ganz konkrete Projekte auf der Agenda, die beide Länder vorantreiben wollen. Die überschneiden sich nur teilweise. Und da könnte es Enttäuschungen geben.

Erdogan wird angesichts der schweren Währungskrise in seinem Land vor allem über Wirtschaftsbeziehungen sprechen wollen. Deutschland ist der grösste Handelspartner, und in der Türkei sind rund 7100 deutsche Firmen aktiv. Das Zerwürfnis mit den USA um den Pastor Andrew Brunson, den die Türkei wegen Terrorvorwürfen festhält, hat dem Land schwer geschadet.

Inflation bis zu 30 Prozent möglich

Amerikanische Sanktionen hatten die Lira auf historische Tiefstände einbrechen lassen. Die Inflation, derzeit bei rund 18 Prozent, sehen einige Analysten bis Ende des Jahres schon bei 30 Prozent. Mehr deutsche Investitionen sollen auch international beruhigende Signale an Märkte und Investoren senden.

Dabei kann und will die deutsche Regierung aber nur bedingt helfen. Botschafter Erdmann sagt es so: «Wir sind überzeugt, dass – neben einem ungünstigen internationalen Klima – ein guter Teil der Probleme hausgemacht ist.» Die türkische Regierung müsse Reformen umsetzen.

Die Präsidntengatinnen: Elke Büdenbäder (rechts) und Emine Erdogan.
Die Präsidntengatinnen: Elke Büdenbäder (rechts) und Emine Erdogan.
Keystone

Aus deutschen Wirtschaftskreisen in der Türkei ist zu hören, dass die Investitionen in der Türkei seit zwei Jahren um rund 20 Prozent geschrumpft seien. Investoren schöben neue Projekte auf die lange Bank. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, sagte jüngst, «Signale der Stabilität» seien erforderlich, damit Deutschland sich bewege. Das trifft wohl auch auf andere Themen zu.

PKK, Gülen, Flüchtlinge

Denn die Wunschliste der Türkei ist noch um einiges länger. Die Wiederbelebung der EU-Beitrittsgespräche steht darauf, Verhandlungen über eine Zollunion und die Einführung der Visumfreiheit, ausserdem Hilfe gegen den «Wirtschaftskrieg» der USA.

In einem Gastbeitrag von Erdogan in der «FAZ» steht am Donnerstag, dass er sich ausserdem Unterstützung im Kampf gegen die verbotene Kurdenorganisation PKK und die Gülen-Bewegung wünscht, die er für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht. Da spielt er wohl auf in Deutschland lebende Verdächtige an. Seit 2016 hat die Türkei bei deutschen Behörden viele Hundert Fahndungs- und Festnahme-Ersuchen gestellt.

Fünf Jahre danach – Was von den Gezi-Park-Protesten übrig blieb:

Deutschland wiederum will von der Türkei um einiges weniger. Zum einen ist es der Regierung wichtig, konstruktiv über die gemeinsam anzugehenden Krisen zu sprechen: den Flüchtlingspakt sowie die Lage in Syrien, wo die Türkei versucht, einen Krieg um die letzte Rebellenhochburg nahe der türkischen Grenze und damit eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Menschenrechte im Fokus

Besonders wichtig ist Berlin aber die Menschenrechtslage in der Türkei - und das ist ein rotes Tuch für Erdogan. Es werde um die schwierige Lage für Journalisten und den Druck auf die Zivilgesellschaft gehen, ausserdem um die fünf aus politischen Gründen inhaftierten Deutschen, hiess es dazu aus dem Präsidialamt. Man wünsche sich in der Türkei einen «grundsätzlichen Kurswechsel».

Der ist allerdings kaum wahrscheinlich, wenn man sich den radikalen Umbau des türkischen Staates in den vergangenen Wochen ansieht. Nach den Wahlen vom Juni hat Erdogan mit einer Vielzahl von Dekreten viele Befugnisse in sein eigenes Präsidialamt hinübergeschaufelt.

Als Staats- und Regierungschef an der Spitze des neuen Präsidialsystems hat er dafür nicht einmal die Zustimmung des Parlaments gebraucht. Ein neues Anti-Terrorgesetz schreibt Teile des im Juli ausgelaufenen Ausnahmezustands fort, den Erdogan nach dem Putschversuch von 2016 verhängt hatte. Zehntausende Menschen sind seitdem festgenommen und rund 140'000 aus dem Staatsdienst entlassen worden.

Erdogan als «FAZ»-Autor

Es besteht also durchaus die Möglichkeit, das Gast und Gastgeber trotz des Bemühens um eine Normalisierung aneinander vorbeireden oder einander erneut provozieren. «Die türkischen Hoffnungen für den Deutschlandbesuch sind überhöht und müssen eigentlich enttäuscht werden», sagt resigniert auch ein türkischer Kontakt, der mit dem Besuch zu tun hat.

Der kleinste gemeinsame Nenner des Besuches ist wohl, das Verständnis für die jeweils andere Seite wieder zu vergrössern. Das sieht auch Erdogan so: In seinem Gastbeitrag in der «FAZ» schreibt er, beide Seiten sollten «mit einem Höchstmass an Empathie» aufe

Zurück zur Startseite