Helferin in Syrien «So einen harten Winter haben wir noch nie gesehen»

Von Gil Bieler

9.4.2021

Jetzt auch noch Corona: Für Millionen von Kriegsflüchtlingen in Syrien ist kein Ende der Not in Sicht. Eine Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen über die Herausforderungen der humanitären Hilfe – und das sinkende Interesse im Westen.

Von Gil Bieler

9.4.2021

Chenery Lim spricht von einem «staatenlosen Gebiet». Sie ist als medizinische Koordinatorin für die Projekte von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Nordwesten Syriens zuständig. Dort liegt auch die umkämpfte Stadt Idlib, die letzte grosse Bastion der Aufständischen. «Die Menschen sind gerade in dieser Region des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen», sagt Lim, «weil es keine funktionierende Regierung gibt, die sie unterstützt.»

In besonderem Mass gilt das für die Massen von Syrerinnen und Syrern, die vor Krieg und Gewalt ihr Zuhause verlassen mussten – und teils seit Jahren in Flüchtlingslagern ausharren. Der letzte Winter sei in ganz Syrien ungewohnt streng gewesen. In den Flüchtlingslagern von Idlib kamen zu Kälte und Coronavirus auch noch Überschwemmungen dazu, ausgelöst durch heftigen Dauerregen. MSF verteilte Decken und Hygienekits, versuchte die Zelte winterfest zu machen. «Doch so einen harten Winter haben wir noch nie gesehen.»

Cassis besucht Flüchtlingscamp

Aussenminister Ignazio Cassis hat am Donnerstag zum Abschluss seiner Nahost-Reise den Libanon besucht, wo der FDP-Bundesrat auch eine informelle Siedlung syrischer Flüchtlinge in Augenschein nahm. Cassis betonte das Engagement der Schweiz für die Syrerinnen und Syrer. Seit Kriegsbeginn 2011 beläuft sich die Hilfe laut Bund auf über 520 Millionen Franken – das grösste humanitäre Engagement der Schweiz.

Weil sich die frierenden Menschen mit Feuern behalfen, brannten auch immer wieder Zelte ab. Das Resultat: Menschen erlitten Brandwunden, einige kamen in den Flammen ums Leben – persönliche Dramen innerhalb einer grossen Katastrophe.

Schlagzeilen machen die Zustände in Syrien längst nicht mehr. Weil der Krieg schon so lange andauere, seien viele Leute im Ausland ermüdet, glaubt Lim. «Dabei hat der Krieg in Syrien nie aufgehört. Die Menschen leben damit jeden Tag.»

Die Solidarität der Schweizer*innen schwindet

Das nachlassende öffentliche Interesse spüren auch die Hilfsorganisationen. «Noch vor zwei bis drei Jahren war die Solidarität der Schweizer Bevölkerung hinsichtlich der Situation der syrischen Kinder ungebrochen», erklärt Jürg Keim, Mediensprecher des UNO-Kinderhilfswerks Unicef, auf Anfrage. «Seit etwa zwei Jahren können wir jedoch eine gewisse Spendenmüdigkeit erkennen, auch wenn es immer wieder Solidaritätsmomente gibt.»

Dabei hätte das Schicksal der Menschen in Syrien weit mehr Aufmerksamkeit verdient, allein schon wegen der Dimensionen der humanitären Tragödie: Über die Hälfte der Bevölkerung musste wegen des Kriegs ihr Zuhause verlassen. Die UNO schätzt die Zahl der im Land Vertriebenen auf 6,7 Millionen, nochmals so viele flüchteten sich ins Ausland – vor allem in die Türkei, den Libanon, Irak, Jordanien und Ägypten. Von Entspannung keine Spur: Ihre Situation sei «schwieriger als je zuvor».

Was hinter diesen Statistiken steckt, beschreibt Chenery Lim aus eigener Erfahrung: In den Flüchtlingslagern leben oft zwei oder drei Familien in einem Zelt zusammen. Abstand halten, um die Verbreitung des Coronavirus zu hemmen, ist kaum möglich. Ein Essenspaket, das für eine vierköpfige Familie gedacht sei, müsse für doppelt so viele Menschen reichen. Das Resultat: Hunger und Mangelernährung. In der Pandemie habe sich ausserdem das Problem mit häuslicher Gewalt verschärft.

Januar 2021: Syrische Flüchtlinge in einem überschwemmten Lager in der Region Idlib. 
Januar 2021: Syrische Flüchtlinge in einem überschwemmten Lager in der Region Idlib. 
Bild: Keystone/AP Photo/Ghaith Alsayed

Der Hilfsbedarf sei enorm, sagt die Projektleiterin von MSF, man könne ihm gar nicht gerecht werden. «Doch wir tun, was wir können.» Im Nordwesten Syriens legt MSF einen Schwerpunkt auf die Wasserversorgung und sanitäre Anlagen, was derzeit laut Lim allein in Idlib über 100'000 Menschen in 37 Lagern zugutekomme. Daneben unterstützt MFS in der Region drei Spitäler und hat zwei mobile Kliniken im Einsatz. In Atmeh etwa betreibt die Organisation eine spezialisierte Station für Verbrennungsopfer, in der zum Beispiel Hauttransplantationen durchgeführt werden.

Die Organisation schult das medizinische Personal in unterschiedlichsten Bereichen, wie Lim erklärt. Etwa darin, wie man eine Wunde korrekt desinfiziert und pflegt. Ärztinnen und Ärzte können sich ausserdem über eine spezielle Telemedizin-Plattform austauschen, wenn sie Fragen zu einer komplizierten Operation haben. «Wegen Covid konnten wir so auch darüber informieren, worauf bei künstlicher Beatmung geachtet werden muss.»

«Die Kinder kennen nichts anderes als Krieg»

Lim war dieses Jahr noch in Syrien, muss derzeit aber die Projekte aus dem Ausland über Smartphone und Internet managen – auch aufgrund der Corona-Situation. Sie arbeitet in anderen Orten im Nahen Osten oder in Brüssel, will aber so bald wie möglich wieder nach Syrien reisen.

Beeindruckend findet sie die Widerstandskraft, die Syrerinnen und Syrer trotz allem an den Tag legten. Aber mit Blick auf künftige Generationen äusserst sie Sorgen: «Die Kinder kennen nichts anderes als Krieg, nichts anderes als Mangel. Sie wachsen auf im Glauben, das Leben in einem Flüchtlingscamp sei die Normalität – sie kennen schlicht nichts anderes.»

Während ihre Altersgenossen in reichen Ländern nach dem Aufwachen als Erstes spielen gehen könnten, müssten Kinder in Flüchtlingslagern sich ganz andere Gedanken machen: «Kommt mein Vater wieder gesund nach Hause? Und bringt er genug Essen mit?» Erschwerend komme hinzu, dass wegen der Corona-Pandemie auch Schulen oder Spielplätze – die einzigen Ablenkungsmöglichkeiten – geschlossen werden mussten.



Um die syrischen Kinder ist man auch bei Unicef besorgt. «Fast neun von zehn Kindern brauchen humanitäre Hilfe», sagt Jürg Keim von Unicef Schweiz und Liechtenstein. Allein innerhalb Syriens seien 2,6 Millionen Kinder vertrieben worden, fast genauso viele mussten mit ihren Familien ins Ausland flüchten. «Es droht eine der grössten humanitären Krisen der Neuzeit.»

Bildung, Bildung, Bildung

Besonderes Augenmerk legt Unicef auf die Schulbildung, denn viele Kinder konnten seit Jahren keinen Unterricht mehr besuchen oder wurden gar nicht erst eingeschult. «Das macht es für sie extrem schwierig, die verlorene Lernzeit nachzuholen», sagt Keim. Um dem entgegenzuwirken, setzt das UNO-Hilfswerk unter anderem auf speziellen Förderunterricht, liefert Schulmaterialien und fördert in der Pandemie den Online-Unterricht.

So gross die Not ist, so gross sind die Kosten für die Hilfe: Allein 2021 will Unicef 1,4 Milliarden Dollar für die Kinder in Syrien und den Nachbarländern einsetzen. Aus der Schweiz und Liechtenstein kamen seit Kriegsausbruch 2011 laut Keim über 15 Millionen Franken an Spenden zusammen.

MSF sammelte in derselben Zeit rund 30 Millionen Franken an Spendengeldern. Die Glückskette sammelte rund 26 Millionen Franken, hat ihren Spendenaufruf mittlerweile aber beendet. 

Trotz des nachlassenden internationalen Interesses betont Chenery Lim: «Jeder Beitrag, den man leisten kann, hilft diesen Menschen wirklich.» Denn obschon die Gefechte zwischen Aufständischen und den Truppen von Machthaber Baschar al Assad zuletzt an Intensität nachliessen, ist ein Ende des Konflikts nicht abzusehen. So sagte der Publizist und Nahost-Experte Erich Gysling kürzlich im Interview mit «blue News»: «Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Situation für relativ lange Zeit so bleiben wird, wie sie aktuell ist.»

Einem Patienten in Ariha, südlich von Idlib, wird die Temperatur gemessen. Dieses Medizincenter wurde eigens zur Behandlung von Corona-Patienten aufgezogen. 
Einem Patienten in Ariha, südlich von Idlib, wird die Temperatur gemessen. Dieses Medizincenter wurde eigens zur Behandlung von Corona-Patienten aufgezogen. 
Bild: Keystone/EPA