Nahost-Konflikt Der lange Schatten der Hisbollah

AP/toko

22.5.2021

Kämpfer der Hisbollah-Miliz bei einer Beerdigung in Adloun.
Kämpfer der Hisbollah-Miliz bei einer Beerdigung in Adloun.
AP/Mohammed Zaatari/Keystone(Archivbild)

Wäre auch die Hisbollah-Miliz aus dem Libanon in den Krieg im Nahen Osten eingetreten, wäre die Lage in der Region wohl noch weiter eskaliert. Doch die Gruppe verhielt sich ruhig. Wie Israel hat sie gute Gründe, derzeit auf eine Konfrontation zu verzichten.

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Seit dem letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006 haben beide Seiten immer wieder gewarnt, dass es zu einer neuen Konfrontation zwischen ihnen kommen könnte — ja kommen wird. Der lange Schatten der Hisbollah hing drohend über den elftägigen Kämpfen zwischen Israel und der Hamas, die am Freitag vorerst mit einer Waffenruhe endeten. Die Sorge war gross, dass sich die einflussreiche libanesische Miliz mit ihrem grossen Raketenarsenal zur Unterstützung der Palästinenser in den Konflikt einschaltet.

Doch die Hisbollah verhielt sich ruhig. Und wenn die Waffenruhe hält, wird ein weiterer Gaza-Krieg ohne eine Einmischung der Organisation zu Ende gegangen sein.

Beide Seiten hatten auch zwingende Gründen, nicht auf Konfrontationskurs zu gehen. Für die Hisbollah ist das vor allem die bittere Erinnerung an die Vergeltungsaktion von 2006, mit der Israel die Hochburg der Miliz im Libanon mit Bombardierungen in Schutt und Asche legte. Der Libanon steckt zudem in einer beispiellosen Wirtschafts- und Finanzkrise, die die Hälfte der Bevölkerung in Armut gestürzt hat, und kann sich eine massive Auseinandersetzung mit Israel kaum leisten.



Sicherheitsrisiko für Israel

Für Israel stellt die vom Iran unterstützte Gruppe im Libanon nach wie vor das grösste und unmittelbarste Sicherheitsrisiko dar. «Israel muss den Konflikt im Gazastreifen mit sehr grossem Augenmerk in Richtung Norden managen, denn der Norden ist ein viel wichtigerer Kampfplatz als Gaza», sagt der frühere israelische Militärgeheimdienstchef Amos Jadlin, der heute das Institut für Nationale Sicherheitsstudien leitet. Er äusserte sich vor Inkrafttreten der Waffenruhe am Freitagmorgen. Am Donnerstagabend hatte das Sicherheitskabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf Druck der USA einem Stopp der Offensive im Gazastreifen zugestimmt. Die Hamas zog rasch nach.

Während der elftägigen israelischen Bombardierung, die im Gazastreifen Tod und Verwüstung anrichtete, war die Reaktion der Hisbollah relativ gedämpft ausgefallen. Ihr Führer Hassan Nasrallah äusserte sich nicht öffentlich — nicht einmal nachdem ein israelischer Soldat bei einer Protestaktion an der Grenze in der vergangenen Woche einen Hisbollah-Kämpfer erschossen hatte. Solidaritätsbekundungen wie der mehrfache Abschuss von Raketen aus dem Südlibanon nach Israel wirkten sorgfältig darauf ausgerichtet, nur begrenzt Schaden zu verursachen. Die meisten der Raketen landeten auf offenem Feld oder im Mittelmeer.

«Wir sind hier»

Wer sie abfeuerte, wurde nicht bekannt. Vermutet wird allerdings, dass es palästinensische Gruppierungen aus dem Südlibanon waren, wohl mit dem Segen der Hisbollah. «Die politische Botschaft lautet: ‹Wir sind hier›, und die Sicherheit Israels an der nördlichen Grenze darf nicht als selbstverständlich betrachtet werden», sagt die Politologin Joyce Karam von der George Washington University.

In der Grenzregion haben Unterstützer der Hisbollah in der vergangenen Woche jeden Tag Protestaktionen organisiert. In mindestens einem Fall durchbrachen Dutzende Menschen den Grenzzaun und drangen auf israelisches Gebiet vor. Israelische Soldaten schossen und töteten einen 21-Jährigen, der später als Hisbollah-Kämpfer identifiziert wurde.

Der ranghohe Hisbollah-Vertreter Haschem Safieddine rühmte am Montag bei einer Kundgebung in Beirut die Schlagkraft der Gruppe. Diese sei seit dem Krieg von 2006 noch deutlich grösser geworden, sagte er. Zugleich deutete er an, dass es noch nicht an der Zeit sei für eine Intervention der Miliz. «Bei der Hisbollah blicken wir auf den Tag, an dem wir zusammen mit Euch kämpfen werden, Seite an Seite und Schulter an Schulter, an allen Fronten, um dieses Krebsgeschwür zu entfernen», sagte er an die Adresse der Palästinenser und mit Blick auf die israelische Präsenz in der arabischen Welt. «Dieser Tag wird unvermeidlich kommen.»

Hisbollah wird immer stärker

Die radikalislamische Organisation hat nach Angaben aus israelischen Verteidigungskreisen in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich deutlich an Stärke gewonnen. Sie habe eine schlagkräftige Armee mit wertvoller Fronterfahrung aufgestellt, die im Bürgerkrieg im benachbarten Syrien die Truppen von Präsident Baschar al-Assad unterstützte. Während des Libanonkriegs von 2006, aus dem keine der beiden Seiten als eindeutige Siegerin hervorging, hatte die Gruppe etwa 4000 Raketen auf Israel abgefeuert, die meisten davon mit begrenzter Reichweite. Heute verfügt sie nach israelischen Angaben über rund 130'000 Raketen und andere Geschosse, die buchstäblich jedes Ziel und damit auch atomare Anlagen in Israel erreichen könnten.

Nach Ansicht von Ex-Militärgeheimdienstchef Jadlin deutet dennoch alles darauf hin, dass die Hisbollah keinen umfassenden Konflikt mit Israel riskieren will. «Nasrallah will den Fehler von 2006 nicht wiederholen», erklärt er. «Er weiss, dass er nicht der Verteidiger, sondern der Zerstörer des Libanons wäre.» Israel hat in der Vergangenheit schon damit gedroht, im Kriegsfall auf die zivile Infrastruktur zu zielen und massive Schäden anzurichten.

Expertin Karam erinnert daran, dass die Hisbollah und Israel seit 2006 immer wieder erklärten, ein erneuter Krieg sei unausweichlich. Seitdem sei der Preis für beide Seiten aber so gestiegen, dass sie momentan kein Interesse daran hätten, erklärt sie: «Fürs Erste scheint dieses Paradigma zu halten, aber das könnte sich später ändern.»