Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow: «Der Kalte Krieg ist nicht verschwunden»

DPA

15.9.2018

Michail Gorbatschow, früherer sowjetischer Präsident, sitzt bei der Vorstellung seines neuen Buches. Der 87-jährige Friedensnobelpreisträger ruft dazu auf, die derzeitige Spaltung zwischen Russland und dem Westen zu überwinden.
Michail Gorbatschow, früherer sowjetischer Präsident, sitzt bei der Vorstellung seines neuen Buches. Der 87-jährige Friedensnobelpreisträger ruft dazu auf, die derzeitige Spaltung zwischen Russland und dem Westen zu überwinden.
dpa

Er hat Geschichte geschrieben: Das Ende des Ost-West-Konflikts vor drei Jahrzehnten war entscheidend Michail Gorbatschows Verdienst. Jetzt ruft er zu Anstrengungen auf, das neue Zerwürfnis zwischen Russland und dem Westen zu überwinden.

Michail Gorbatschow ist alt geworden; wer ihn trifft, braucht Geduld. Der erste und letzte Präsident der untergegangenen Sowjetunion, 87 Jahre alt, läuft nicht mehr gut. Am Stock, gestützt auf die Hand eines Mitarbeiters kommt er in seine Stiftung in Moskau. Auf dem Flur hängen Preise und Ehrungen aus vielen Ländern, auch aus Deutschland. Doch die wertvollste Auszeichnung liegt im Tresor, die Urkunde zum Friedensnobelpreis 1990.

Schwerfällig nimmt Gorbatschow an einem Konferenztisch Platz, aber der Blick geht wach und freundlich in die Runde. Er geht nur noch selten in die Öffentlichkeit. Eigentlich soll er an diesem Nachmittag sein neues Buch vorstellen, sein Stab hat ihm die Rede vorbereitet. Doch der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war schon immer ein Meister des Abschweifens, und das hat sich im Alter eher verstärkt.

Also liest er zunächst aus einem alten Porträt, das die französische Schriftstellerin Francoise Sagan über ihn geschrieben hat. «Lebt sie noch?», fragt er. «Nein», muss sein Übersetzer und lebenslanger Helfer Pawel Palaschtschenko eingestehen. Viele Menschen, die Gorbatschow gekannt hat, leben schon nicht mehr.

Souverän ignoriert  er sein Redemanuskript

Wie andere Hochbetagte kehrt er in Gedanken in die Kindheit zurück. «Der Vater meines Vaters hiess Andrej, der Vater meiner Mutter Pantelej. Grossvater Andrej wollte nicht in die Kolchose eintreten, die Grossvater Pantelej aufgebaut hat.» Michail Gorbatschow aus dem Kosakendorf Priwolnoje. Der Bauernjunge, der Weltgeschichte geschrieben hat. Seinen südrussischen Akzent hat er nie abgelegt.

Ab und zu blättert er eine Seite des ansonsten souverän ignorierten Redemanuskripts um. «Sonst wird Pawel böse», sagt er listig und kommt irgendwann doch auf das neue Buch. Es sei gelungen, meint er. Wobei ihm das Cover des vorletzten noch besser gefallen habe. Da zeigte ein Foto Gorbatschow nämlich mit seinem geliebten Borsalino-Hut.

Michail Gorbatschow und Pawel Palaschtschenko (rechts), sein langjähriger Dolmetscher und Mitarbeiter.
Michail Gorbatschow und Pawel Palaschtschenko (rechts), sein langjähriger Dolmetscher und Mitarbeiter.
dpa

Das neue Buch heisst auf Russisch «In einer sich verändernden Welt», und Gorbatschow kehrt noch einmal zurück in seine aussenpolitische Glanzzeit. Bahnbrechende Verhandlungen mit den US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush über nukleare Abrüstung. Gespräche mit Kanzler Helmut Kohl über die deutsche Einheit. Treffen mit der «Eisernen Lady» Margaret Thatcher.

«Der Kalte Krieg ist nicht verschwunden»

Eigentlich seien solche Einblicke ins aussenpolitische Handwerk «off the records» (nicht zur Veröffentlichung) bestimmt, kommentiert sein Ex-Pressesprecher Andrej Gratschow. Umso wertvoller seien sie nun.

Es geht um Dinge, die Gorbatschow immer wichtig waren. Um atomare Abrüstung. Der alte Mann, der hier am Tisch sitzt, blickt zurück in eine hoffnungsvolle Zeit vor drei Jahrzehnten - als Truppen nicht ausgeschickt, sondern abgezogen wurden, Waffen nicht erneuert, sondern vernichtet wurden. Gorbatschow ermöglichte den Ländern Osteuropas einen demokratischen Neuanfang. Und er versuchte, Freiheit in der Sowjetunion einzuführen - nur dass sein Land darüber zerbrach. Viele Russen nehmen ihm das bis heute übel.

Im Gespräch kommt er schliesslich doch noch auf die aktuelle Lage, das neue Zerwürfnis zwischen Russland und dem Westen. «Der Kalte Krieg ist nicht verschwunden. Er hat sich nur in der Intensität geändert», bilanziert er. Doch man müsse sich dafür einsetzen, dafür kämpfen, dass es nicht noch mehr Rückschläge gibt.

Es wird einsam um Gorbatschow

Irgendwann streift ihn der Gedanke an seine Frau. «Es sind schon 20 Jahre ohne Raissa», klagt er. Was haben sich die Russen anfangs über die schicke und selbstbewusste Frau an der Seite ihres Generalsekretärs mokiert! Mittlerweile gelten Michail und Raissa Gorbatschow als eins der grossen Liebespaare in der Politik.

Doch man spürt, dass es trotz Tochter und zwei Enkelinnen einsam wird um ihn. Raissa, Ronald und Nancy Reagan, Thatcher, Kohl, die Aussenminister Hans-Dietrich-Genscher und Eduard Schewardnadse - er hat sie alle überlebt. Und welches Begräbnis der russische Staat für den ehemaligen Präsidenten planen mag: Für Gorbatschows Mitarbeiter ist klar, dass er in Moskau neben seiner Raissa ruhen will.

Dann stellt Pressesprecher Gratschow dem früheren Chef seinen jüngsten Enkel vor. Der Kontakt zu dem Studenten belebt Gorbatschow. Und der Enkel hat eine nette italienische Freundin dabei! Nun, die muss sich zu einem Plausch setzen! Und so dauert der Nachmittag, und erst nach drei Stunden entlässt der alte Mann auch den letzten Besucher mit einer freundlichen Widmung in seinem neuen Buch.

Bilder des Tages
Zurück zur Startseite