Ruhe vor dem Sturm «Der militärische Vorteil liegt derzeit bei der Ukraine»

Von Andreas Fischer

19.9.2022

Die ukrainische Gegenoffensive setzt Russland im Osten der Ukraine unter Druck. 
Die ukrainische Gegenoffensive setzt Russland im Osten der Ukraine unter Druck. 
Leo Correa/AP/dpa/Archiv

Nach der erfolgreichen Offensive der ukrainischen Armee im Nordosten will Wolodymyr Selenskyj jetzt auch Mariupol zurückerobern. Aber ist das auch realistisch? Wie stark ist die Ukraine wirklich? Ein Analyst schätzt ein.

Von Andreas Fischer

19.9.2022

«Vielleicht erscheint es irgendjemandem unter Ihnen so, dass nach einer Reihe von Siegen Stille eingetreten ist, doch das ist keine Stille», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in seiner täglichen Videoansprache. Vielmehr sei es die Ruhe vor dem Sturm. Die Ukraine wolle weiter angreifen, bereite gerade die nächste Offensive vor. Ziel der Angriffe sei die Rückeroberung von Cherson im Süden des Landes. Aber nicht nur das: Die Ukraine wolle auch Melitopol und die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer befreien.

Die Frage dabei ist: Will die ukrainische Armee wirklich versuchen, die von Russland besetzten Gebiete am Asowschen Meer zurückzuerobern, um die russisch kontrollierte Landverbindung zwischen dem Donbas und der Krim zu kappen? Oder blufft Selenskyj einmal mehr? Immerhin hatte er seit Juli immer wieder eine Offensive in Cherson angekündigt, nur um dann woanders zuzuschlagen.

Aufgegangen ist diese Taktik in Charkiw jedenfalls. Russland hatte viele Kräfte aus der Region abgezogen, sodass Selenskyjs Truppen dort vergleichsweise leichtes Spiel hatten. Nach der erfolgreichen Offensive der Ukraine im Nordosten des Landes gab es über die wirkliche Stärke der ukrainischen Armee eine Kontroverse unter Militärexperten. Der Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, Eberhard Zorn, bezweifelte, dass die Ukraine Russland auf breiter Front zurückdrängen könne.

Für diese Einschätzung musste Deutschlands oberster Soldat viel Kritik einstecken und bekam offenen Widerspruch. So hat der ehemalige Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa, Ben Hodges, Zorns Analyse als «erstaunlich dürftig» bezeichnet.

Zur Person
zvg

Niklas Masuhr ist Sicherheitsforscher und Militäranalyst am Center for Security Studies der ETH Zürich.

Wie stark ist die Ukraine wirklich? blue News hat bei Niklas Masuhr, Militäranalyst von der ETH Zürich, nachgefragt.

«Wir wissen immer noch tendenziell wenig über die ukrainische Seite: Wie viele Reserven sie genau hat und in welchem Zustand diese sind», sagt Masuhr. «Was wir gesehen haben, ist, dass die Ukraine sehr gut ausgerüstet ist. Das ist im Vergleich zum Beginn des Krieges oder gar zu 2014 ein riesiger Unterschied. Und die Ukraine hat bewiesen, Gegenoffensiven mit Verbänden verschiedener Waffengattungen zu führen.»

«Der militärische Vorteil liegt derzeit auf der ukrainischen Seite», schätzt Masuhr ein. Wie einige andere Analysten habe er nicht erwartet, dass die Ukraine bereits jetzt in der Lage ist, eine solche Offensive durchzuführen.

Doch die Ukraine rückt im Nordosten weiter vor und hat wohl den Fluss Oskil überquert, an dem die Russen zuletzt ihre neue Front aufgebaut hatten. Diese Linie wackelt jetzt: Das ukrainische Militär konnte nach eigenen Angaben an dem Fluss Truppenteile übersetzen und damit einen Brückenkopf gen Osten bilden.

Wie lange könnte die Ukraine die Offensive weiterführen?

«Jede Offensive verliert irgendwann an Schwung», sagt Masuhr. «Wenn man zu weit über die eigenen Versorgungslinien hinaus vorstösst, verliert man an Kampfkraft und wird verwundbar: Bei einer solchen Überdehnung muss der Widerstand der gegnerischen Truppen nicht einmal besonders gross sein.»

Dabei sei nicht zu vergessen, dass der Krieg ziemlich mechanisiert ist. «Die Truppendichte ist relativ gering: Es gibt keine durchgehende Linie von Divisionen, die nebeneinander vorrücken, sondern wir haben bei der Gegenoffensive im Norden auf ukrainischem Seite mobile Brigaden gesehen, die recht viel im freien Raum unterwegs sind. Ohne Munition und Sprit wird man da schnell zu einem leichten Ziel.»

Die Ukraine müsse also zwangsläufig immer wieder Pausen einlegen, um Nachschubbasen aufzubauen und die Truppen neu zu organisieren.

Welche Auswirkungen hat der kommende Winter auf den Krieg?

«Natürlich wird es schwieriger, offensive Operationen durchzuführen, wenn die Böden matschig werden. Im Winter, wenn die Böden gefroren sind, wird es aber wieder leichter», so Masuhr, der aber auch klarstellt: «Die Ukraine ist ein grosses Land und hat nicht nur eine Klimazone. Im nördlichen Donbas sind die Witterungsbedingungen anders als im Süden. Die Gelegenheitsfenster für Offensivoperationen sind also nicht unbedingt gleichzeitig.»

Selenskyj will Mariupol und Melitopol zurückerobern. Wie realistisch ist das?

Grundsätzlich sei es deutlich schwieriger, Melitopol und Mariupol zurückzuerobern, als eine regionale Gegenoffensive im Norden zu führen. Masuhr: «In dem Moment, in dem es um Strassenkampf, um Häuserkampf geht, sieht es anders aus: Es ist etwas anderes, dünn besiedeltes Gebiet raumgreifend zurückzuerobern, als eine Stadt wie Cherson einzunehmen.»

Was kann Russland den Ukrainern derzeit militärisch entgegensetzen?

Niklas Masuhr glaubt nicht, dass Russland noch massgebliches offensives Potenzial hat, das nicht aktuell schon eingesetzt wird. Ein signifikanter Teil der russischen Truppen habe in den Brückenkopf bei Cherson geschickt werden müssen, um diesen halten zu können.

Russland habe keine konventionelle Eskalationsdominanz mehr, sagt Masuhr: «Die russische Armee hat in Sjewjerodonezk den Kulminationspunkt erreicht: Dort war der Schwung grosser Offensivbemühungen beendet, der seitdem nicht wieder aufgenommen werden kann.»

Das sei relevant für die Einschätzung der Gesamtlage. «Um Sjewjerodonezk einzunehmen, hatte Russland auf sehr kleinem Raum eine permanente Artilleriearchitektur aufgebaut und bis zu 50'000 Granaten pro Tag abgefeuert. Was die Ukraine sehr geschickt gemacht hat: Nach dem Rückzug aus Sjewjerodonezk die westlichen Himars und GMLRS einzusetzen, um die russischen Artilleriedepots zu zerstören.»

«Die Einnahme von Sjewjerodonezk war für Russland ein Minimalziel, nachdem man nach der strategischen Konzentration auf den Osten des Landes zuvor zweimal erfolglos versucht hat, dort grössere Gebiete zu erobern beziehungsweise grosse Teile der ukrainischen Armee einzukreisen. Wenn man so will, hat sich Russland mit dem niedrigsten Ambitionsniveau zufrieden geben müssen.»

«Was die Ukraine danach gemacht hat, ist die Initiative zu ergreifen mit der Offensive in Cherson. Dabei hat sie dort scheinbar nicht primär versucht, grosse Teile des Gebietes zurückzuerobern. Es ging der Ukraine darum, russische Truppen zu binden und gleichzeitig deren Logistik zu treffen.» Würde sie versuchen, die Stadt Cherson zurückzuerobern, während sie noch in Reichweite russischer Artillerie ist, könnte sie sich hingegen übernehmen.

Welche Optionen hat Moskau überhaupt noch?

Die russische Armee ist vor allem drauf beschränkt, sich in der Ukraine zu verteidigen. «Russland ist in Cherson gezwungen, den Brückenkopf zu halten, allerdings zu Konditionen, die sich stetig verschlechtern, weil Nachschubwege und Munitionsdepots zerstört werden», sagt Masuhr. «Es ist eine zunehmend verwundbare Position für Russland: Der Ukraine geht es in Cherson überspitzt gesagt darum, eine blutende Wunde für die russische Armee zu schaffen.»

Das hiesse aber nicht, dass die Ukraine mit frontalen Angriffen das Gebiet einfach einnehmen könne: «Auch Truppen, die nicht in der Lage sind, Offensivoperationen durchzuführen, können Gebiete immer noch verteidigen und dem Gegner hohe Verluste zufügen.»

Durch die ukrainische Offensive zeige sich aber auch, dass die russische Armee aktuell nicht in der Lage ist, erobertes Territorium auch zu verteidigen und gleichzeitig Offensiven zu führen.

Kann Russland nicht einfach mehr Soldaten rekrutieren?

Das wird schwierig. Zwar steht die Mobilisierung seit Mai im medialen Raum: «Aber Russland hat beispielsweise keine Infanterieschule, keine zentralen Trainingseinrichtungen, wie es sie in anderen Ländern gibt. Die Rekruten werden bei ihren Einheiten ausgebildet: Wenn die sich im Einsatz in der Ukraine befinden, dann können sie nicht ausgebildet werden», sagt Masuhr.