Anhörung zum Kapitol-Sturm «Die meisten Amerikaner haben sich bereits entschieden»

Von Oliver Kohlmaier

10.6.2022

Das Untersuchungsgremium des Repräsentantenhauses soll die Hintergründe des Angriffs auf das Kapitol aufklären.
Das Untersuchungsgremium des Repräsentantenhauses soll die Hintergründe des Angriffs auf das Kapitol aufklären.
Alex Brandon/AP Pool/dpa

Die Aufarbeitung der Kapitol-Erstürmung geht in die nächste Runde. Doch was können die Anhörungen im US-Kongress noch bewirken? Ein Experte ordnet ein. 

Von Oliver Kohlmaier

10.6.2022

Die Kapitol-Erstürmung  gehört zu den dunkelsten Stunden in der langen und erfolgreichen Geschichte der US-Demokratie. So ist es kein Wunder, dass der 6. Januar 2021 Politik und Gesellschaft noch immer beschäftigt.

Über Monate hinweg wertete ein Untersuchungsausschuss des US-Kongresses Videomitschnitte, Chatprotokolle, E-Mails und weitere Dokumente aus, befragte zudem Hunderte Zeug*innen.

Die zweistündige Präsentation zur besten Sendezeit war nur der Auftakt zu weiteren Anhörungen in den kommenden Wochen. Ziel ist es, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und diejenigen wachzurütteln, für die der Angriff auf den Sitz der US-Demokratie schon wieder in den Hintergrund gerückt ist — und jene, die weiter eisern zu Trump stehen.

Unter anderem wird enthüllt, dass nicht Trump, sondern sein Vizepräsident Mike Pence die Nationalgarde angefordert habe. Der Ausschuss präsentiert ausserdem Erkenntnisse, wonach Trump wohlwollend auf Drohungen seiner Anhänger reagiert habe, seinen Vize Mike Pence zu hängen:  «Vielleicht haben unsere Anhänger die richtige Idee.»

Polarisiertes Umfeld

Die bereits bekannten und neu vorgebrachten Erkenntnisse sind zweifelsohne schockierend. Doch haben die Anhörungen angesichts der Polarisierung der US-Politik und der beispiellosen Propagandaschlacht überhaupt das Potenzial, die amerikanische Gesellschaft wachzurütteln? 

«Wenn dies nicht der Fall ist, fürchte ich um die Zukunft der amerikanischen Demokratie», schreibt Marco Steenbergen von der Uni Zürich auf Anfrage von blue News.

Die neun Ausschuss-Mitglieder während der ersten öffentlichen Anhörung des Sonderausschusses des Repräsentantenhauses.
Die neun Ausschuss-Mitglieder während der ersten öffentlichen Anhörung des Sonderausschusses des Repräsentantenhauses.
J. Scott Applewhite/AP/dpa

«Die Zeit ist selten ein Freund dieser Art von Verfahren», erklärt der Politikwissenschaftler. So dauere es lange, die Beweise zu sichten, der «unmittelbare Schock» habe sich längst verflüchtigt.

Wie viele andere Expert*innen ist auch Steenbergen skeptisch, ob die Anhörungen den erhofften Effekt erzielen: «Im derzeitigen polarisierten Umfeld haben sich die meisten Amerikaner bereits entschieden.» Für sie werden die Beweise also eher «eine untergeordnete Rolle spielen.»

Ausschuss macht Trump für Kapitol-Erstürmung verantwortlich

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Der Untersuchungsausschuss zur Erstürmung des US-Kapitols sieht die Verantwortung für die Ereignisse am 6. Januar 2021 bei Ex-US-Präsident Donald Trump. Der Vorgang sei «der Höhepunkt eines Putschversuchs» gewesen, sagte der Ausschussvorsitzende B

10.06.2022

Fox News macht Stimmung

Wie wichtig eine gute Show auch im Parlament ist, wissen die US-Demokraten. Für die Übertragung holten sie sich Hilfe bei Grössen aus dem TV-Geschäft.

Die erste öffentliche Sitzung des Gremiums konnte bei zahlreichen Sendern live verfolgt werden. Eine nicht unbedeutende Ausnahme war der rechtskonservative Sender Fox News, der sich strikt weigert, die Anhörungen zu übertragen.

So bezeichnete einer der Stars des Senders, Sean Hannity, die Präsentation als «langweilig». Sie sei lediglich eine mehrstündige Spendenaktion der US-Demokraten, die sich als Anhörung zum 6. Januar tarnt.

Steenbergen zufolge gibt es für das unentwegte Trommeln des Senders gute Gründe: «Die Tatsache, dass Fox News es für nötig hält, die Anhörungen herunterzuspielen, signalisiert, dass die Rechte über den Ausgang des Verfahrens zutiefst beunruhigt ist, was sie auch sein sollte.»

Auch Republikaner waren schockiert

Unmittelbar nach der Erstürmung zeigten sich auch viele Republikaner schockiert und gingen zunächst auf Abstand zu Trump. Diese Zeiten sind jedoch längst Geschichte.

Angesichts der vielen Anhänger des Ex-Präsidenten wagt es der Grossteil der Partei nicht, sich auf die Seite der Vize-Ausschussvorsitzenden Liz Cheney zu stellen, einer von nur zwei republikanischen Mitgliedern des neunköpfigen Gremiums.

Der Sender Fox News spielt die Erstürmung unentwegt herunter — und verfolgt damit die gleiche Strategie wie auch die meisten Republikaner. Es handle sich nicht um einen Putschversuch, sondern um einen patriotischen Protest von Menschen, die lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäusserung in Anspruch nähmen.

Das verfängt zumindest bei den eigenen Leuten: «Was die Strategie der Republikaner anbelangt, so kommt mir die psychologische Verzerrung des Validitätseffekts in den Sinn», schreibt Steenbergen und fügt hinzu: «Wenn man eine Behauptung oft genug wiederholt, fangen die Leute an, sie unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt als gültig zu betrachten.»

Man könne beobachten, dass die Republikaner diese menschliche Tendenz ausnutzen – mit beträchtlichem Erfolg.

Aufwiegelung ist eine Straftat

Während die öffentlichen Anhörungen den Standpunkt der Wähler nur wenig beeinflussen dürften, könnten Trump und weiteren Beschuldigten durchaus Konsequenzen drohen.

«Aufwiegelung (‹Sedition›) ist ein Verbrechen gegen die amerikanische Verfassung», erklärt Steenbergen. Sollten sich also genug Beweise ansammeln, welche «auf Aufwiegelung auf den höheren Ebenen der früheren Regierung hindeuten», könnte dies in künftigen Strafverfahren verwendet werden.

Ob dies auch passieren wird, darf laut Steenbergen bezweifelt werden. So habe das Justizministerium selbst die Personen, die physisch an den Ereignissen des 6. Januar 2021 beteiligt waren, nur zögerlich strafrechtlich verfolgt.

Grösste Sorge Inflation

Indessen haben die US-Demokraten bei den öffentlichen Anhörungen auch die kommenden Mid-Term-Wahlen im Hinterkopf. Indem sie die Republikanische Partei als Demokratieverächter brandmarken, erhoffen sie sich eine Verbesserung der miesen Umfragewerte.

Die Amerikaner*innen allerdings, so der Tenor der Trump-Unterstützer, haben andere Probleme als die eines angeblichen Putschversuchs: Die Leute interessieren sich nicht mehr für den 6. Januar. Vielmehr jedoch für die drastisch steigenden Preise, allen voran für Benzin. Laut einer repräsentativen Umfrage gaben 80 Prozent an, die Inflation werde ihre Wahlentscheidung beeinflussen