Lage in Deutschland spitzt sich zu Die «Pandemie der Ungeimpften» hat das Land im Griff

Von Sven Hauberg

30.10.2021

Das bayerische Mühldorf am Inn ist einer der Hotspots der Corona-Pandemie.
Das bayerische Mühldorf am Inn ist einer der Hotspots der Corona-Pandemie.
Bild: Keystone

In Deutschland explodieren die Corona-Zahlen, auf den Intensivstationen wird es enger. Die Situation zwingt eine Regierung, die es noch gar nicht gibt, zum Handeln.

Von Sven Hauberg

Wenn die Corona-Pandemie eines gezeigt hat, dann das: Es macht wenig Sinn, Prognosen über die Zukunft abzugeben. Die künftige deutsche Bundesregierung hat dennoch den Blick in die Glaskugel gewagt. «Alle Massnahmen enden spätestens mit dem Frühlingsbeginn am 20. März 2022», sagte Marco Buschmann von der FDP am vergangenen Mittwoch.

Buschmanns Partei verhandelt – ebenfalls seit Mittwoch – zusammen mit der SPD und den Grünen über die sogenannte Ampel-Koalition, die noch in diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen und SPD-Politiker Olaf Scholz zum Bundeskanzler wählen will.

«Die Ampel funktioniert auch, bevor es sie gibt», sagte Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt an einer  gemeinsamen Pressekonferenz mit Vertretern der anderen Parteien. Soll heissen: Schon bevor sich die drei Partner auf eine gemeinsame Regierung geeinigt haben, machen sie bereits Politik. Eine Mehrheit im Bundestag haben sie schliesslich.

Marco Buschmann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Dirk Wiese, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, traten am Mittwoch vor die Presse (von links).
Marco Buschmann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Dirk Wiese, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, traten am Mittwoch vor die Presse (von links).
Bild: Keystone

Und überhaupt: Nichts zu tun wäre keine Option angesichts der aktuellen Pandemie-Lage. Denn die Fallzahlen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) vermeldet, steigen seit Tagen kontinuierlich an. Demnach lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Freitag vor einer Woche bei 95,1.

Am gestrigen Freitag schoss der Wert, der die Zahl der Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen angibt, dann auf 139,2. Mehr als 24'000 Neuinfektionen wurden innert 24 Stunden gemeldet, ausserdem 121 Todesfälle in Verbindung mit dem Coronavirus.

«Der 25. November wird kein Freedom Day sein»

«Schulschliessungen, Lockdowns und Ausgangssperren wird es mit uns nicht mehr geben», verkündete am Mittwoch dennoch Dirk Wiese von der SPD. Die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite wolle man am 25. November auslaufen lassen. Danach dürften die Länder dennoch Massnahmen wie Maskenpflicht, 3G und Abstandsregeln im öffentlichen Raum einführen. «Der 25. November wird kein Freedom Day sein», sagte Wiese auch. «Wir wollen verantwortungsvoll durch den Herbst und den Winter gehen, damit wir Covid-19 im Frühling hinter uns haben.»



Nach einem Ende der Pandemie sieht es derzeit allerdings nicht aus. So sieht etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) das Land aktuell «in einer kritischen Situation». Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte der DKG-Vorsitzende Gerald Gass: «Wenn diese Entwicklung anhält, haben wir schon in zwei Wochen wieder 3000 Patienten auf Intensivstation.»

Derzeit lagen in Deutschland nach Zahlen aus dem Intensivregister zuletzt fast 1800 Menschen auf der Intensivstation, schreibt die Nachrichtenagentur dpa. Zum Vergleich: Zum Höhepunkt der Pandemie im Januar 2021 wurden mehr als 5700 Corona-Erkrankte intensivmedizinisch behandelt.

Die meisten Ungeimpften wollen keine Spritze

Neun von zehn Menschen, die in Deutschland derzeit auf der Intensivstation liegen, sind allerdings nicht geimpft. Bislang gelten mindestens zwei Drittel der Deutschen als vollständig geimpft, etwas mehr als in der Schweiz, im internationalen Vergleich aber dennoch wenig.

«Wir müssen alles in unserer Macht Stehende versuchen, um die Impfraten zu erhöhen», mahnte der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, im Gespräch mit der «Augsburger Allgemeinen». «Bei hoher Durchimpfung der Bevölkerung gibt es sehr viel mehr milde Verläufe – die müssen nicht ins Krankenhaus, aber viele Ungeimpfte erkranken nach wie vor schwer.»



Laut einer am Donnerstag veröffentlichten Studie dürfte sich an der Impfquote allerdings nicht mehr viel ändern. Zwei Drittel aller Ungeimpften, so die Forsa-Umfrage, wollen sich «auf keinen Fall» in den nächsten zwei Monaten das Vakzin spritzen lassen, ein Viertel tendiert zu «eher nein». Erschwerend kommt hinzu, dass es in Deutschland immer weniger betriebsbereite Intensivbetten gibt, weil viele Pflegerinnen und Pfleger ihren Job aus Erschöpfung gekündigt haben.

Im Alltag merkt man unterdessen wenig von der sich zuspitzenden Lage. In den Kinos, den Clubs, den Hörsälen, den Restaurants – fast überall im Land ist es derzeit so voll wie vor Beginn der Pandemie. Wer geimpft oder genesen ist, spürt wenig von den noch geltenden Corona-Beschränkungen, vom Tragen einer Maske einmal abgesehen.

Ungeimpfte aber müssen vielerorts draussen bleiben, denn immer mehr Betriebe setzten auf «2G». Das heisst: Nur mit dem Nachweis einer Impfung oder einer Genesung erhält man Zutritt etwa zur Innengastronomie oder zu Veranstaltungen, ein negativer Test allein reicht nicht mehr. Die Pandemie ist längst eine Pandemie der Ungeimpften – in der Freizeit, aber auch auf den Intensivstationen.