Die UN-Vollversammlung hat mit deutlicher Mehrheit die von Russland angestrebte Annexion vierer ukrainischer Gebiete verurteilt. Bei der Abstimmung stellten sich nur vier Staaten an die Seite Moskaus.
13.10.2022
Mit einer historischen Mehrheit hat die UN-Vollversammlung die russischen Annexionen in der Ukraine verurteilt. Der Politologe Wolfang Seibel ordnet ein, warum Putin jetzt zittern muss.
Von Jan-Niklas Jäger
13.10.2022, 16:17
14.10.2022, 13:23
Von Jan-Niklas Jäger
Nie zuvor waren sich die Vereinten Nationen so einig: 143 der 193 Mitgliedsstaaten stimmten für einen Beschluss, mit dem die russischen Annexionen bereits besetzter ukrainischer Regionen verurteilt und für nichtig erklärt werden. «Die Welt hat gesprochen», freute sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Twitter. «Russlands versuchte Annexionen sind wertlos und werden von den freien Nationen nie anerkannt werden.»
Grateful to 143 states that supported historic #UNGA resolution "Territorial integrity of Ukraine: defending the principles of the UN Charter". The world had its say - RF’s attempt at annexation is worthless & will never be recognized by free nations. 🇺🇦 will return all its lands pic.twitter.com/FupYPfZz8M
Doch was für eine Bedeutung kann man sich von dem weitgehend symbolischen, gewerteten Abstimmungsergebnis tatsächlich erhoffen? Keine, die militärische Folgen hätte, wie der Polit-Experte Wolfgang Seibel von der Universität Konstanz im Gespräch mit blue News sagt. Wohl aber sei «die politisch-psychologische Wirkung ganz gewaltig», da eine derart starke Mehrheit für den Beschluss nicht zu erwarten gewesen sei.
Russland international zunehmend isoliert
«Das wird für Russland mindestens die sprichwörtliche kalte Dusche sein», so Seibel. Russland habe «alles unternommen, um Staaten davon abzuhalten, der Resolution zuzustimmen oder sie dazu zu bewegen, sich wenigstens zu enthalten». Stattdessen gab es Zustimmung von Staaten, von denen man es nicht erwartet hatte, wie etwa den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Auch dass die sogenannten BRICS-Staaten – Mitglieder einer Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften, zu denen neben Russland selbst Brasilien, Indien, China und Südafrika gehören – sich nicht auf Russlands Seite geschlagen haben, sei eine herbe Niederlage. Gerade von diesen nicht-westlichen einflussreichen Ländern bräuchte der Kreml Rückendeckung, um international bestehen zu können.
Auf der internationalen Bühne steht Wladimir Putin zunehmend isoliert da. «Anders als Russland steht die Ukraine nicht alleine da», wie es die deutsche UN-Vertretung formulierte. Gegen die Resolution stimmten neben Russland nur Belarus, Syrien, Nordkorea und Nicaragua. Enthalten haben sich 35 Nationen, darunter China, Indien, Südafrika und Pakistan.
«Die Rolle Chinas kann man kaum überschätzen»
Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland einen wirklichen Partner in diesem Konflikt gewinnen könnte, geht laut Wolfgang Seibel gegen null. Zwar gäbe es, so Seibel, «grosse, in der internationalen Gemeinschaft durchaus einflussreiche Staaten – im Besonderen eben China oder Indien oder Brasilien –, die sich ganz bewusst und demonstrativ nicht entscheiden wollen» – die aber würden ihre «eigene Rechnung» aufmachen.
Diese Staaten, so Seibel, «sehen unvermeidlich, dass Russland sich vor allem durch Konzept- und Strategielosigkeit auszeichnet. China oder Indien stört es wenig, wenn die Russen Kriegsverbrechen begehen». Was für diese Staaten tatsächlich von Bedeutung wäre, sei die Frage, ob man sich auf Moskau überhaupt verlassen könne: «Wenn sie den Eindruck gewinnen, dass Putin gar kein Konzept hat und ein Ausgang dieses von ihm begonnenen Konflikts in einer für alle Seiten gesichtswahrenden oder befriedigenden Form gar nicht in Sicht ist, dann ist das die verwundbarste Stelle der russischen Position überhaupt.»
Die Rolle Chinas könne man ohnehin «kaum überschätzen», sagt Seibel. So könne man vermuten, «dass die Tatsache, dass Russland zwar mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, sie aber wahrscheinlich nicht einsetzen wird, auch etwas damit zu tun hat, dass aus Peking sehr deutlich zu verstehen gegeben worden sein dürfte, dass damit eine rote Linie überschritten würde». Des Weiteren habe China «kein Interesse daran, als Komplize von Russland zu erscheinen». Also verfolge das Land eine «Politik der Ambivalenz», um keine «ganz offene Unterstützung für Russland» zu signalisieren.
«Wir müssen mit der UN so zurechtkommen, wie sie beschaffen ist»
Von einer «Politik der Ambivalenz» kann man auch im Fall Saudi-Arabiens sprechen. Hatte das Königreich speziell die USA zuletzt mit seiner Russland-freundlichen Öl-Politik vor den Kopf gestossen, stimmte es jetzt zusammen mit sämtlich in der saudischen Einflusssphäre befindlichen Golfstaaten für die Verurteilung Moskaus, ein Versuch, «eine Zwischenposition einzunehmen». Schliesslich habe die Regierung in Riad «knallharte wirtschaftliche Interessen im Zusammenhang mit der Ölforderung und dem Ölpreis».
Dennoch sei die Zustimmung Saudi-Arabiens ein gutes Zeichen: «Wir haben es da mit einer wenigstens rationalen politischen Führung zu tun, wenngleich die unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechtsschutz in keinster Weise entspricht.»
Völkerrechtlich bindend ist der Beschluss der Generalversammlung nicht. Eine solche Bindung gäbe es nur bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, in dem Russland jedoch zu den Vetomächten gehört, ein «Konstruktionsfehler der Vereinten Nationen», wie Seibel es ausdrückt. «Umso wichtiger sind prozedurale Fragen, also zum Beispiel, ob man nicht verstärkt die Generalversammlung in Anspruch nimmt, und sei es nur, um solche politisch symbolträchtigen Entscheidungen wie die von gestern zu erreichen.» Schliesslich müsse man «mit der UN so zurechtkommen, wie sie beschaffen ist».
Internationale Gemeinschaft zieht rote Linie
«Viele spüren jetzt eine Erleichterung, dass es zumindest bei der Generalversammlung zu einer eindeutigen Verurteilung der unverfrorenen und gewaltsamen Annexionspolitik Russlands gekommen ist.» Viele Staaten hätte sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, «ob man es sich leisten will, lokale gewaltsame Okkupations- und Annexionspolitik zu tolerieren», in den meisten Fällen mit dem Ergebnis, «dass da eine rote Linie gezogen werden muss».
Obwohl die UN-Resolution also keine konkreten völkerrechtlich bindenden Konsequenzen mit sich bringt, ist sie mehr als ein blosser Fingerzeig in Richtung Moskau. Sie signalisiert eine so noch nicht da gewesene Positionierung gegen russische Aussenpolitik und unterstreicht die internationale Isolierung von Putins Regime, das immer weniger Karten in der Hand hält. Die rote Linie ist gezogen, doch die Frage bleibt: Wie wird der russische Präsident damit umgehen?