Interview Die starken Männer und «der Untergang der Demokratie»

Von Gil Bieler

10.9.2019

Politiker wie Trump, Erdogan und Johnson untergraben zunehmend demokratische Grundwerte – und treiben so die Bürger auf die Strasse. Steckt die Demokratie in der Krise? «Bluewin» hat eine Expertin gefragt.

Die Geschichte der Demokratie mag bis zu den alten Griechen zurückreichen – zu Ende erzählt ist sie aber noch lange nicht. Doch es dürfte Einigkeit darin bestehen, dass wir derzeit ein spezielles Kapitel erleben: Der Zerfall demokratischer Systeme ist in so vielen Ländern zu beobachten wie noch nie seit Beginn des Industriezeitalters. Darauf weisen Daten des Forschungsinstituts V-Dem an der Universität im schwedischen Göteborg hin.

Die dortigen Wissenschaftler analysieren die globale politische Entwicklung seit 1900. In ihrem Jahresreport 2018 halten sie fest: In 24 Ländern, darunter Schwergewichten wie den USA, Indien und Brasilien, sind heute Kräfte am Werk, die die Demokratie aushöhlen.

Wenig erstaunlich ist es also, dass derzeit vielerorts die Menschen auf die Strasse gehen, um für mehr Mitspracherecht zu kämpfen. Ob in Moskau, Hongkong oder London: Bürger wehren sich dagegen, dass die Regierungen über ihre Köpfe hinweg entscheiden (wollen).

Und in der Schweiz? Betrug die durchschnittliche Stimmbeteiligung bei nationalen Vorlagen letztes Jahr 43,7 Prozent. Über die Hälfte der Stimmberechtigten hat somit, um es mit Bundespräsident Ueli Maurer zu sagen, «kä Luscht», ihre Stimme auch einzubringen. Verkehrte Welt?



Vielleicht hätten viele in Europa verlernt, «die Magie» der Demokratie zu schätzen, sagt Anna Lührmann, Vizedirektorin des V-Dem-Instituts. Dass die Demokratisierung Frieden zwischen den Ländern gebracht habe, sei zwar weitherum anerkannt, wie die deutsche Politikwissenschaftlerin im Gespräch mit «Bluewin» weiter sagt. Doch gehe gern vergessen, dass das auch innerhalb eines Staates gelte: «Dass ein Machtwechsel friedlich ablaufen kann, dass eine Gruppe die Macht an eine andere abgibt, ohne dass es zu Gewalt kommt – das ist doch eigentlich ein Wunder.»

Anna Lührmann
Die Politikwissenschaftlerin ist Vizedirektorin des Forschungsinstituts V-Dem an der Universität Göteborg. Von 2002 bis 2009 sass sie für die Grünen im Deutschen Bundestag.

Foto: Gothenburg University

Global betrachtet schlägt das Pendel freilich in die andere Richtung aus: Die schwedischen Forscher sprechen von einer «dritten Welle der Autokratisierung». Gemeint ist damit eine Entwicklung, in der Grundwerte wie freie Wahlen, Pressefreiheit und Gewaltenteilung abgebaut werden und stattdessen die Macht der Herrschenden ausgebaut wird.

Was bedenklich ist: Zum ersten Mal seit 1978 wird die Demokratie in mehr Ländern geschwächt anstatt gestärkt. Und: Erstmals erfasst dieser Trend auch Länder, in denen bereits starke demokratische Strukturen etabliert waren.

Frau Lührmann, erleben wir gerade den Untergang der Demokratie?

So dramatisch würde ich das nicht formulieren. Was wir erleben, ist eine Erosion der Demokratie. Und in einigen Ländern kann man schon von einem Untergang der Demokratie sprechen – in der Türkei zum Beispiel und in Russland. In beiden Ländern sind die Wahlen nicht mehr frei und fair, und es steht schon von vornherein fest, dass die Regierung gewinnen wird. In den anderen von einer Autokratisierung betroffenen Ländern versuchen zwar verschiedene Akteure, vor allem die Regierungen, die Demokratie zu unterminieren, aber das System betrachten wir bei V-Dem nach wie vor als demokratisch.


Die generelle Stossrichtung zeigt aber, dass demokratiefeindliche Kräfte Oberwasser haben. Sind Sie deswegen alarmiert?

Auf jeden Fall. Das ist vor allem deshalb alarmierend, weil in vielen dieser Länder Teufelskreise in Gang gekommen sind. In den USA zum Beispiel erleben wir eine radikale Polarisierung der Gesellschaft, eine Aufspaltung in verfeindete Lager. Das wieder umzukehren, wird ganz schwierig. Deshalb bin ich schon besorgt.

Gemäss Ihren Forschungen lässt sich ein Prozess der Autokratisierung kaum mehr aufhalten, wenn er einmal begonnen hat.

Genau. Obwohl man sagen muss, dass die Autokratisierungsprozesse, die wir historisch untersuchen konnten, in Ländern stattgefunden haben, die nur eine sehr kurze Phase der Demokratie hatten. Was wir aber jetzt sehen, ist, dass auch starke Demokratien davon erfasst werden. Das kann bedeuten, dass eine Umkehr möglich ist. Und dennoch gibt es Beispiele wie in Tschechien, dort hat es Massenproteste gegen den populistischen Regierungschef gegeben. Das stimmt mich schon optimistisch, dass ein grosser Teil der Bevölkerung nach wie vor von Demokratie überzeugt ist und dafür auch auf die Strasse geht. Oder nehmen wir Grossbritannien ...

... wo Premier Boris Johnson das Parlament entmachten will.

Genau, da sind sehr viele Menschen spontan auf die Strasse gegangen.



Welche Faktoren führen denn dazu, dass eine Demokratie ins Autokratische abrutscht?

Wir beobachten jeweils drei Dinge. Erstens gibt es meist irgendeine Art von Krise. Die kann wirtschaftlicher Natur sein oder es kann eine kulturelle Krise sein wie etwa in Polen, wo sich gewisse Kreise mit eher konservativen Werten nicht ernst genommen fühlen von den Eliten. Das führt dann zweitens dazu, dass neue Akteure auf die Bühne treten, die das ausnutzen und Zuspruch erhalten. Etwa Donald Trump in den USA. Und wenn der Politiker dann an der Macht ist, muss er drittens versuchen, die Institutionen auszuhöhlen.

Hat Trump damit Erfolg?

Man sieht, dass die Institutionen Trump noch Paroli bieten können. Die Gerichte, das Parlament, die Medien, die Zivilgesellschaft, all diese Akteure tragen dazu bei, dass er nicht einfach so schalten und walten kann, wie er gerade will. Und dass die Autokratisierung nicht so schnell vorankommt wie etwa in Russland.

In Ungarn und Polen ist dieser Prozess aber schon weiter fortgeschritten

Das liegt aber daran, dass die auf einem niedrigeren Level angefangen haben. Wenn man sich ansieht, wie demokratisch Ungarn und Polen waren, als Fidesz repektive PiS an die Macht kamen, dann waren die ein gutes Stück weniger weit als die USA. Beide Länder blicken auch auf eine kürzere demokratische Geschichte zurück. Das hat natürlich einen Einfluss darauf, wie stark die Institutionen sind.


Trump, Orban, Erdogan, Putin: Schwingen sich eigentlich vor allem Politiker des Typs «starker Mann» zu Autokraten auf?

Das ist definitiv ein Männer-Phänomen. Ich habe in all meinen Studien noch keine Frau gesehen, auf die das zutrifft – ausser vielleicht Marine Le Pen in Frankreich, für die es ja aber dann nicht zum Sprung an die Macht gereicht hat. Und in Deutschland gibt es bei der AfD auch einige Frauen in der Führung.

Wer ist denn ein mustergültiges Beispiel eines Autokraten?

Erdogan. In Vorträgen nenne ich oft die Türkei als Beispiel. Erdogan war, nachdem er 2002 zum Premier gewählt wurde, die ersten Jahre noch demokratisch, auf EU-Kurs. Ab 2005 hat er dann damit angefangen, die Opposition zu gängeln – und das hat er langsam gesteigert. Als es 2013 Proteste im Gezi-Park in Istanbul gab, hat man auch im Ausland erstmals gemerkt, dass er Richtung Autokratie steuert. Und zuletzt, nach der Masseninhaftierung von Journalisten und Oppositionellen, besteht gar kein Zweifel mehr daran.



Vor ein paar Jahren gingen die Leute in der arabischen Welt auch auf die Strasse, um für mehr Mitbestimmung zu kämpfen. Was ist denn vom «arabischen Frühling» übriggeblieben?

Tunesien zum Beispiel ist jetzt eine Demokratie, auch wenn sie noch mit Problemen zu kämpfen hat. Das ist ziemlich spannend zu sehen. Und in den anderen Ländern bleibt in der Bevölkerung immer noch die Erfahrung zurück, dass es eben funktionieren kann, die Regierung in die Schranken zu weisen. Auch wenn das im ersten Versuch nicht geklappt hat, bleibt das eine historische Erinnerung, die in der Bevölkerung weiterlebt.

Wie muss man sich diese historische Erinnerung vorstellen?

Ein gutes Beispiel dafür ist der Sudan: In der Geschichte des Landes gab es mittlerweile dreimal Massendemonstrationen, mit denen die Militärdiktatur abgesetzt wurde, doch hat es danach mit einer demokratischen Regierung nie richtig geklappt. Erst in diesem Jahr gab es wieder Massenproteste, über Monate hinweg. Die Leute haben sich gesagt: «Was unsere Eltern und Grosseltern geschafft haben, das schaffen wir auch.» Das meine ich mit historischer Erinnerung, und die ist ganz wichtig.

Deshalb warne ich auch vor einer fatalistischen Sichtweise. Nur weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat, kann man immer noch auf dem aufbauen, was man einmal erreicht hat. Die Demokratisierung ist kein gradliniger Prozess. In Deutschland etwa konnte man auch auf den Erfahrungen mit der Weimarer Republik aufbauen, als es darum ging, eine Demokratie einzuführen. Man konnte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

In Europa haben die populistischen Strömungen derzeit Aufwind. Krankt denn unser demokratisches System?

Das glaube ich nicht. Schauen Sie sich an, mit welchen Themen die Populisten mobilisieren: Das sind ja vor allem Fremdenfeindlichkeit und Widerstand gegen eine kulturelle Modernisierung – etwa Offenheit gegenüber Homosexuellen oder mehr Chancen für Frauen. Der Erfolg der Populisten hat viel mit solchen Themen zu tun, auch wenn sie natürlich behaupten, sie seien gegen das politische System. Was man sich aber sicherlich überlegen sollte in Europa, ist, wie mehr Menschen am politischen Prozess teilhaben können.



Eignen sich dafür Mittel der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz haben?

Zum Beispiel. Wobei, die Schweiz hat ja auch ihre Erfahrungen mit Populisten gemacht – deshalb weiss ich nicht, ob die Volksabstimmung ein Allheilmittel ist. Ich denke da eher an modernere Parteien, die es für Leute interessanter werden lässt, mitzumachen, ich denke auch an mehr lokale Bürgerbeteiligung und daran, dass die Politiker eine andere Sprache sprechen sollten. Das politische Phrasengedresche – davon müssen sie wegkommen. Denn das ist etwas, was die Populisten besser können: So reden wie der Mann von der Strasse. 

Sind wir Europäer vielleicht auch etwas demokratiemüde geworden?

Demokratie wird zumindest als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Das ist wie in einer alten Ehe: Der Partner gilt dann einfach als selbstverständlich, und wenn er auf einmal verschwindet, ist man ganz überrascht. In der Demokratie ist das ganz ähnlich: Wie die Ehe muss man sie pflegen.

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