Kaderschmiede war gesternIn der Uni von Teheran entzündet sich die Wut der Bildungselite
Von Isabel Debre, AP
30.10.2022 - 23:55
Brutale Gewalt: Proteste im Iran niedergeschlagen
Im Iran sind Sicherheitskräfte Berichten zufolge
gewaltsam gegen protestierende Menschen vorgegangen sein.
30.10.2022
Lange war die Scharif-Universität in Teheran eine Kaderschmiede der iranischen Führungsschicht. Doch längst gehen auch dort die Studierenden auf die Strasse. Selbst konservative Hochschüler sagen sich: jetzt oder nie.
DPA, Von Isabel Debre, AP
30.10.2022, 23:55
dpa/twei
Der Backstein-Campus der Scharif-Universität für Technologie zieht seit langem die iranische Bildungselite an. Tausende ehemalige Studierende sitzen heute in Schlüsselbranchen wie der Atomenergie und der Luftfahrt an den Schalthebeln. Einer der engsten Berater des Obersten Führers Ajatollah Ali Chamenei lehrte jahrzehntelang an der als «iranisches M.I.T.» bekannten Hochschule. Doch nun hat sich die Uni in der Hauptstadt Teheran überraschend zu einem Zentrum der regierungskritischen Proteste entwickelt.
«Wir sind politisch aktiv geworden, weil es nichts zu verlieren gibt», sagt ein Elektrotechnik-Student und Aktivist, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will. «Bei der derzeitigen Lage im Iran muss man entweder auswandern und Familie und Freunde verlassen oder bleiben und für die eigenen Rechte kämpfen.»
Seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im September gehen im ganzen Iran Menschen auf die Strasse. Die grösste Protestbewegung seit mehr als zehn Jahren richtet sich gegen soziale Unterdrückung, die schlechte Wirtschaftslage und die globale Isolation des Landes – Krisen, die die junge und gut ausgebildete Generation besonders hart treffen. In den vergangenen Wochen sind Universitäten, an denen es zuvor jahrelang ruhig gewesen war, zu Hochburgen des Widerstands geworden.
Studierende fordern «das Ende der Islamischen Republik»
«Studierende haben erkannt, dass sie in diesem Rahmen nicht zu ihren Rechten kommen werden», erklärt der Forscher Mohammad Ali Kadivor vom Boston College. «Sie fordern das Ende der Islamischen Republik.»
An der Scharif-Universität kommt es seit einem Monat fast täglich zu Protesten. Nach einem gewaltsamen Einschreiten der Sicherheitskräfte am 2. Oktober eskalierten die Demonstrationen. Das Vorgehen gegen Studierende und Lehrkräfte löste international Empörung aus.
Mehrere Demonstranten wurden verletzt und etwa 40 festgenommen, von denen die meisten inzwischen wieder auf freiem Fuss sind. Mehr als zwei Dutzend Studierende wurden vorübergehend von den Lehrveranstaltungen ausgeschlossen.
Scharif-Universität schon öfter Schauplatz von Protesten
«Ob es stimmt oder nicht, die Menschen haben das Gefühl, dass es sicherer ist, auf dem Campus zu demonstrieren», sagt Moin, ein Absolvent der Scharif-Universität, der die Kundgebungen verfolgte und nur seinen Vornamen nennen will. «Es ist einfacher, als auf irgendeinem Platz in Teheran etwas zu organisieren. Es gibt Studierendenverbände. Es gibt eine Führung.»
Schon in der Vergangenheit waren Universitätsgelände wichtige Schauplätze der iranischen Oppositionsbewegungen. Nach dem von den USA gestützten Putsch 1953 hatten Studierende der Universität von Teheran gegen einen Besuch des damaligen US-Vizepräsidenten Richard Nixon in der Hauptstadt protestiert. Die Sicherheitskräfte des Schahs stürmten den Campus und erschossen drei Studierende.
Zwei Jahrzehnte später wurde der Campus der Scharif-Universität wie auch andere durch Protestierende in Trümmer gelegt: Damals starteten marxistische und islamistische Studierendengruppen die Islamische Revolution von 1979, die im noch heute herrschenden klerikalen Establishment mündete.
Die junge Theokratie wollte nach ihrem Machtantritt rasch dafür sorgen, dass Universitäten künftig keine Brutstätten für Opposition sein würden. Die Kleriker entliessen Professoren, nahmen kritische Studierende fest und setzten ihre eigenen, mächtigen Studierendenorganisationen ein.
Beste Absolvent:innen verlassen den Iran
Trotz der Risiken mobilisierten politische Themen gelegentlich Studierende. So protestierten 1999 reformerische Studentinnen und Studenten an der Universität von Teheran, bis Sicherheitskräfte eingriffen und einen Demonstranten erschossen und weitere aus Fenstern schleuderten.
Doch im Laufe der Jahrzehnte wurden die jungen Leute an den Hochschulen der Hauptstadt zum Schweigen gebracht, vor allem an der renommierten Hightech-Uni Scharif, die als weniger liberal und aktivistisch gilt als andere in Teheran. Vor dem Hintergrund amerikanischer Sanktionen und einer steigenden Inflation scherzten Studierende, dass die Hochschule im Grunde ein Flughafen sei: Denn die besten Absolventinnen und Absolventen flogen nach ihrem Abschluss nach Europa oder in die USA aus.
2018 kam es nach Angaben von Studierenden zu einem Wendepunkt, als der damalige US-Präsident Donald Trump das Atomabkommen mit dem Iran aufkündigte und wieder scharfe Sanktionen einführte. Die immer weiterreichende globale Isolation und Frustration über zögerliche politische Reformen brachten viele junge Akademiker zu der Überzeugung, dass Systemtreue ihnen nichts bringen würde.
Studierende fordern Freiheit
Ein Jahr später, im Herbst 2019, lösten Benzinpreis-Erhöhungen die tödlichsten landesweiten Unruhen seit der Islamischen Revolution aus. Auch an der Scharif-Universität organisierten Studierendenverbände Demonstrationen, ebenso wie 2020, als die iranischen Streitkräfte eine ukrainische Passagiermaschine abschossen.
Dabei wurden 176 Insassen getötet, darunter mehr als ein Dutzend Absolventen der Scharif-Universität. Im selben Jahr führte die Festnahme von zwei Studierenden ebenfalls zu Protesten.
«Wir haben keine Industrie, wir stecken in einer schlechten wirtschaftlichen Situation, die Umwelt ist ruiniert», sagt der Aktivist der Studierendenvereinigung zu seinen Beweggründen, an den aktuellen Kundgebungen teilzunehmen. «Aber der wichtigste Grund ist Freiheit. Wir wollen nur grundlegende Dinge, die auf der ganzen Welt möglich sind.» Moin sagt: «Selbst meine konservativen Freunde haben gesagt: Wenn wir jetzt nicht auf die Strasse gehen, werden wir es nie tun.»