Trotz der gewaltsamen Auseinandersetzungen im ganzen Land hat das Parlament von Peru ein Vorziehen der für 2026 geplanten Parlamentswahlen abgelehnt. Damit stellte sich das Parlament gegen eine der Hauptforderungen der Demonstranten, die seit Tage
17.12.2022
Für Neuwahlen gehen seit Tagen unzählige Menschen in Peru auf die Strasse. Ihr Protest entzündet sich an der Absetzung von Präsident Castillo, reicht aber viel tiefer.
DPA, AP/toko
18.12.2022, 00:00
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Die Wut über die Politik in Peru könnte kaum grösser sein als in Andahuaylas. In dem abgelegenen Anden-Ort, in dem Reichtum ein Fremdwort ist, fühlen sich die Menschen übergangen wie seit langem nicht mehr. Ihr Protest hält an, ihre Stimme soll gehört werden. Sie fordern Neuwahlen und die Freilassung des abgesetzten Präsidenten Pedro Castillo, den sie im vergangenen Jahr mit ins Amt gewählt haben.
«Für die, die im Kongress sitzen, gilt nur die Meinung der Peruaner, die Geld haben, der reichen Leute», sagt Raquel Quispe. Mit bebender Stimme, manchmal von Weinen unterbrochen, bringt sie auf den Punkt, was die Menschen in Andahuaylas seit der Amtsenthebung des linksgerichteten Präsidenten in der vergangenen Woche auf die Strasse treibt: Sie wollen nicht an den Rand gedrängt werden. Sie wollen ernstgenommen werden in der Politik ihres Landes.
Castillo wollte Parlament auflösen
Dem entmachteten Castillo werden Vorwürfe der Rebellion zur Last gelegt. Er hatte angekündigt, das Parlament auflösen zu wollen und Neuwahlen in den Raum gestellt. Daraufhin enthob ihn der Kongress seines Amtes. Der ehemalige Dorfschullehrer und Gewerkschafter war mit dem Versprechen sozialer Politik für die Ärmeren ins Amt gekommen und galt für weite Teile der Landbevölkerung als einer von ihnen. Jetzt sitzt er in Untersuchungshaft.
«Sie machen, was sie wollen», protestiert Quispe mit Blick auf die Politiker ihres Landes. «Für sie zählen die Wählerstimmen der Provinz nicht, gelten als nutzlos. Aber das Votum der Menschen in Lima wird berücksichtigt. Das ist eine Ungerechtigkeit.»
Zusammen mit rund 3000 anderen ist Quispe auf der Strasse von Andahuayla, um ihren Protest kundzutun – und um von den jungen Männern Abschied zu nehmen, die bei den teils ausser Kontrolle geratenen Demonstrationen am Wochenende zu Tode kamen. Einer der beiden ist Quispes Bruder: der 17-jährige Beckham Romário Quispe Garfias.
Ein talentierter Sportler, sagt Schwester Raquel, benannt nach dem englischen Fussballstar David Beckham und dem brasilianischen Fussballer und späteren Politiker Romário. Auch ihr Bruder sei es leid gewesen, für die Politik unsichtbar zu sein.
Bei Protesten quer durchs Land erschallt der Ruf nach Neuwahlen, nach einem Rücktritt von Dina Boluarte, die als bisherige Vize das Präsidentenamt übernommen hat, und nach einer Freilassung Castillos. Am lautesten ist der Ruf in den ländlichen Gemeinden, in denen der Rückhalt für den Politik-Aufsteiger aus einem armen Bergdistrikt in den Anden am grössten ist.
Zu Wochenbeginn signalisierte Boluarte Entgegenkommen. In einer landesweit ausgestrahlten Fernsehansprache kündigte sie an, dem Kongress einen Vorschlag zur Vorverlegung der nächsten Wahlen auf April 2024 zu übermitteln. Zuvor hatte sie erklärt, für die restlichen dreieinhalb Jahre der aktuellen Amtszeit Präsidentin bleiben zu wollen. Die 60-Jährige, zuvor Vizepräsidentin und Ministerin für Entwicklung und soziale Inklusion, war am 7. Dezember unmittelbar nach der Entmachtung Castillos als Nachfolgerin vereidigt worden.
«Meine Aufgabe als Präsidentin der Republik ist es, in dieser schwierigen Zeit die Wünsche, Interessen und Sorgen der grossen Mehrheit der Peruaner zu interpretieren», sagte Boluarte in ihrer TV-Ansprache. Zugleich verhängte sie den Ausnahmezustand über Gebiete ausserhalb Limas, in denen es besonders gewaltsame Proteste gab. Zur Ruhe ist Peru mit der Rede nicht gekommen.
Das südamerikanische Land hatte in den letzten sechs Jahren sechs Präsidenten. Im Jahr 2020 waren es sogar drei innerhalb einer Woche. Die jüngste Präsidentschaftskrise kommt zu einer Zeit, in der Tausende kleine Bauernhöfe in den Anden mit der schlimmsten Dürre seit einem halben Jahrhundert zu kämpfen haben. Und die Corona-Pandemie hat auch in Peru ihren Tribut gefordert.
Frust über die Politik ist gross
Castillos Anhängerschaft hatte gehofft, dass der Ex-Gewerkschafter im Präsidentenamt etwas bewegen würde. Doch in seiner 17-monatigen Amtszeit konnte Castillo kein einziges wichtiges Projekt verwirklichen und sah sich selbst mit der Diskriminierung konfrontiert, die auch seine Anhänger in den armen Bevölkerungsschichten beklagen. In Andahuaylas hatten rund 80 Prozent bei der Stichwahl im Rennen ums Präsidentenamt im vergangenen Jahr für Castillo gestimmt. Der Frust über die Politik ist gross.
Zu den ernüchterten und aufgebrachten Wählerinnen in Andahuaylas gehört Rosario Garfias, die Mutter von Beckham. Sie demonstriert in der Menge vor dem Krankenhaus, in dem die Leiche ihres Sohnes liegt, und beklagt den Verlust auf Quechua. «Meine Mutter klagt in ihrer Sprache», sagt Tochter Raquel. «Ich weiss, dass viele sie nicht verstehen, nicht einmal der Kongress versteht sie.» Die Mutter spreche von ihren tiefen Verletzungen, davon dass der Sohn wie in einem Schlachthaus getötet worden sei. «Und meine Mutter bittet – wie meine Familie auch – um Gerechtigkeit für meinen Bruder.»