Vom Tellerwäscher zum GastronomenIn Londoner Restaurant kochen Obdachlose Gourmet-Menüs
Samuel Walder
1.10.2024
Im Herzen von Londons Viertel Primrose Hill bietet das Restaurant Home Kitchen obdachlosen Menschen eine Chance, ihr Leben zu verändern – und das mit einem Sternekoch an der Seite.
Samuel Walder
01.10.2024, 22:52
Samuel Walder
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Das Restaurant Home Kitchen in London bietet obdachlosen Menschen durch eine Ausbildung in der gehobenen Gastronomie eine berufliche Chance.
Der Michelin-Sternekoch Adam Simmonds leitet das Projekt und passt die Speisekarte so an, dass sie von unerfahrenen Köchen gemeistert werden kann.
Das Projekt wird durch Crowdfunding und Fonds finanziert und zielt darauf ab, langfristig eigenständig und gemeinnützig zu arbeiten.
Seit drei Wochen hat das Restaurant Home Kitchen in Primrose Hill, einem charmanten Viertel im Norden Londons, seine Türen geöffnet. Mimi Mohamed, eine der neuen Mitarbeiterinnen, ist sich fast sicher, das Rezept für die Zitronentarte auswendig zu kennen. Zur Sicherheit lehnt dennoch ein kleines Notizbuch mit den Zutaten an der Stahltheke: 18 Zitronen, 420 Gramm Butter, 900 Gramm Zucker, 24 Eier. Dieses Rezept stammt von Adam Simmonds, einem Michelin-Sternekoch, der das Team aus unerfahrenen Köchen anleitet – fast alle waren zuvor obdachlos, wie «The New York Times» schreibt.
«Die Leute in der Küche machen viele Fehler, aber das ist in Ordnung», sagt Simmonds lachend. «Wir akzeptieren das und lernen daraus.» Das Konzept des Restaurants, das von Alex Brown, dem Leiter der Londoner Suppenküche, initiiert wurde, ist einzigartig: Es bietet obdachlosen Menschen eine Karrierechance in der gehobenen Gastronomie.
Die Idee entstand während der Pandemie, als viele derjenigen, die sich bei der Suppenküche für Essen anstellten, fragten: «Kennen Sie irgendwelche Jobs?»
In Städten auf der ganzen Welt, so auch in Grossbritannien, sind Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit eng miteinander verbunden. Arbeitgeber stellen selten Menschen ohne festen Wohnsitz ein, und so bleibt es für viele obdachlose Menschen unmöglich, aus diesem Kreislauf auszubrechen.
Home Kitchen möchte hier Abhilfe schaffen: Die Mitarbeiter absolvierten vor der Eröffnung einen intensiven dreiwöchigen Kochkurs und arbeiteten anschliessend zwei Wochen in der Küche des Megaro, einem Fünf-Sterne-Hotel, in dem Simmonds kürzlich zum Chefkoch ernannt wurde.
Die neuen Köche arbeiten in Vollzeit und verdienen 13,15 Pfund, (14.90 Franken) pro Stunde, den in London festgelegten Existenzlohn. Zusätzlich erhalten sie Fahrtkostenzuschüsse und während der Schicht kostenlose Mahlzeiten. Wenn die Mitarbeiter die 90-tägige Probezeit bestehen, haben sie Anspruch auf einen einjährigen Zertifizierungskurs am Westminster Kingsway College, der vollständig bezahlt wird.
Wer zahlt für das Projekt?
Die Gründer von Home Kitchen konnten 350'000 Pfund, (396'000 Franken) über Crowdfunding sammeln. Weitere 210'000 Pfund, (237'000 Franken) kamen von einem philanthropischen Fonds für soziale Projekte. Das Ziel des Restaurants ist es, sich selbst zu tragen und keinen Gewinn zu erwirtschaften.
Anders als in TV-Serien wie The Bear oder Boiling Point, wo Küchen unter extremem Druck arbeiten, legt Simmonds Wert auf ein entspanntes Arbeitsumfeld, in dem die Mitarbeiter Zeit haben, zu lernen. «Wir müssen ihr Selbstvertrauen stärken», sagt er.
Simmonds hat die Speisekarte mehrfach angepasst, um sicherzustellen, dass die Gerichte auch von unerfahrenen Köchen zubereitet werden können. Komplexe Rezepte wie Ziegenkäsemousse mit Feigen wurden gestrichen, stattdessen gibt es ein Festpreis-Menü für 35 Pfund, (39.60 Franken) mit einfacheren, aber hochwertigen Gerichten. Ein Degustationsmenü für 65 Pfund, (73.60 Franken) wird ebenfalls angeboten.
Für viele der neuen Mitarbeiter ist die Küche eine völlig neue Welt. Paul Brown, der Fisch und Hühnchen in Vakuumbeutel verpackte, hatte noch nie von Zutaten wie Knollensellerie oder Glattbutt gehört. Mimi Mohamed musste lernen, wie man die Zitronentarte-Mischung auf die richtige Konsistenz bringt. Illia Kovalenko, ein 20-jähriger ukrainischer Flüchtling, brauchte Unterricht im Cocktailmixen.
Sommonds weiss, wovon er redet
Simmonds selbst arbeitet derzeit 17 Stunden täglich, da er neben Home Kitchen auch ein zweites Restaurant im Megaro leitet. Er gibt zu: «So kann ich nicht weiter machen.» Doch es gibt auch grössere Herausforderungen: Letzte Woche verloren zwei Mitarbeiter ihre Notunterkünfte und verbrachten einige Nächte auf der Strasse. Das Team half ihnen, eine Unterkunft in einem Hostel zu finden.
Simmonds weiss aus eigener Erfahrung, wie schnell man in die Obdachlosigkeit abrutschen kann. Der Starkoch ist ein genesender Kokainabhängiger und erinnert sich an eine Zeit, in der er seine Miete nicht bezahlen konnte. Seine Familie nahm ihn auf. «Wir geben diesen Menschen eine zweite Chance», sagt er.
Auch er selbst hat mehrfach eine zweite Chance bekommen. «Ich bin seit über 30 Tagen clean», sagt Simmonds, der sich mit einem Glas Mineralwasser zurücklehnt – genauso lange, wie Home Kitchen geöffnet ist.