Explosion nach vielen Krisen Diesmal fühlen sich die Libanesen entmutigt

AP/toko

13.8.2020

Ein Bild der Zerstörung: Beirut nach der Explosion.
Ein Bild der Zerstörung: Beirut nach der Explosion.
KEYSTONE/EPA/STR

Bürgerkrieg, Nahostfehden, Korruption und Wirtschaftskollaps: Die Menschen im Libanon haben viel durchgemacht. Aber irgendwie hielten sie immer den Kopf hoch — bis zur vergangenen Woche.

Fast eine Woche lang musste Mona Sahran auf einem Sofa schlafen, das sie quer vor den Eingang zu ihrer Wohnung gestellt hat. Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August hatte die Türen aus den Angeln gerissen und das Glas ihrer Fenster zersplittert — und so fürchtete sie, dass sie nach all der Zerstörung nun auch noch von Plünderern heimgesucht werden könnte.

Die 50-jährige Libanesin hat in ihrem Leben schon manche Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Vor ein paar Monaten verlor sie ihr letztes Einkommen als Schneiderin — Folge einer Kombination von Demonstrationen gegen die Regierung, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes und Restriktionen wegen Corona. Nun drohte die Explosion ihr auch noch das Zuhause zu nehmen. «Es ist keine Schande, arm zu sein», sagt Sahran. «Aber dieses Haus ist das einzige, das mir noch geblieben ist.»

Proteste gab es schon vor der Katastrophe. Das Versagen der Behörden hat die Wut der Bürger neu entfacht.
Proteste gab es schon vor der Katastrophe. Das Versagen der Behörden hat die Wut der Bürger neu entfacht.
KEYSTONE/EPA/NABIL MOUNZER

Die Libanesen haben viel politische Instabilität erlebt, aber sich irgendwie nie entmutigen lassen. Aber diesmal scheinen viele den Mut verloren zu haben. In den vergangenen zehn Monaten hatten sie es mit einer schwindelerregenden Serie von Ereignissen zu tun, die ihnen auch noch ihr letztes, künstliches Gefühl der Sicherheit genommen haben.

Das Land steckt in einer schweren Finanzkrise, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut, während es vor zwei Jahren 20 Prozent waren. Das Bankensystem, einst das Juwel der Wirtschaft, liegt in Trümmern, die Arbeitslosigkeit steigt und steigt. Die Explosion brachte das Fass sozusagen zum Überlaufen.



Bei der Katastrophe am Dienstag vergangener Woche waren etwa 160 Menschen getötet und fast 6000 verletzt worden. Ganze Strassenzüge der libanesischen Hauptstadt nahe dem Hafen wurden verwüstet. Als mögliche Ursache gilt ein Feuer, das 2750 Tonnen Ammoniumnitrat zur Explosion brachte. Die Ladung mit der hoch entzündlichen Chemikalie war jahrelang in einer Halle am Hafen gelagert worden. Viele machen die grassierende Korruption in Politik und Gesellschaft für die Katastrophe verantwortlich.

Die Explosion habe die Libanesen in eine «parallele Zeitschiene» katapultiert, sagt die libanesische Autorin Lina Mounzer. «Alles, was für uns vorstellbar war, gehört in die eine Welt, und jetzt befinden wir uns in der Welt des Unvorstellbaren. Es lässt sich mit nichts vergleichen, was irgendjemand von uns zuvor erlebt hat. Und wir haben Bürgerkriege durchgemacht.»

Demonstranten werfen in Beirut Steine auf libanesische Bereitschaftspolizisten.
Demonstranten werfen in Beirut Steine auf libanesische Bereitschaftspolizisten.
Bilal Hussein/AP/dpa

Sahran ist in Karantina zu Hause, einem der ärmsten Teile von Beirut in der Nähe des Hafens. Sie lag auf ihrer Couch, als es zur Explosion kam, und ein Regen von Scherben prasselte auf sie nieder. Sie schrie, rief nach ihrer verstorbenen Mutter, wurde in ihre Kindheit zurückversetzt, als Karantina schwer vom Bürgerkrieg (1975 bis 1990) getroffen wurde. Ihr erster panischer Gedanke war, dass sie jetzt wieder ihr Haus werde verlassen müssen — wie 1976 ihre Familie. Sahran lebte damals mit ihren vier Geschwistern und Eltern jahrelang auf beengtem Raum in einem Hotelzimmer.

Wieder zurück in der Gegenwart rannte sie durch das Haus, um sich um ihre Angehörigen zu kümmern. Sie fand ihren 60-jährigen Bruder, einen Neffen und Cousin mit blutigen Schnittwunden durch Glasscherben vor. Glücklicherweise hatte die Explosion nur Türen weggerissen, Fenster gesprengt und Risse in einem Bade- und Schlafzimmer verursacht. Aber «es war die Definition von Terror», sagt Sahran. «Diese Haus ist das einzige, das uns Sicherheit gibt.»

Schon die vergangenen Jahre waren schwer genug. Sahran betreut ihren Bruder, der im Ruhestand ist, aber keine Rente bekommt und nach einem Selbstmordversuch vor mehreren Jahren besondere Aufmerksamkeit erfordert. Sie selbst verlor im Frühjahr ihr — ohnehin schon vorher geschrumpftes — Einkommen als Schneiderin: Getroffen von Strassenprotesten und Beschränkungen wegen Corona hörte eine Boutique für Braut-und Abendkleider auf, ihr Arbeit zu schicken. Nun wird Sahran von Verwandten unterstützt, und freiwillige Helfer setzten diese Woche eine Behelfstür an ihrem Hauseingang ein.

Mit Politik hat Sahran wenig am Hut, sie findet sie zu kompliziert. Aber sie ist sich sicher: «Unsere Herrscher sind unseres Land nicht würdig.»

Weniger als zwei Kilometer entfernt sitzt Rachelle Boumelhem in ihrem zerstörten Schönheitssalon im schicken Bezirk Achrafieh. Die Explosion hat Wände eingerissen, Boumelhem hat noch Glassplitter in ihrem Bein. Die heute 29-jährige gebürtige Australierin hat den Salon namens Reign mühsam zusammen mit ihrer Mutter und ihren Schwestern aufgebaut, nachdem die Familie nach Ende des Bürgekriegs in den 1990er Jahren aus Australien zurückgekkehrt war. Sie sei immer mit hochgehaltenem Kopf durch vergangene Krisen gegangen, sagt sie, hat auch die angeordnete Zwangsschliessung wegen Corona mit Erfindungsreichtum gemeistert. Aber der Salon war ihr Traum — und liegt nun in Trümmern.

«Das ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, dass alles über unserem Kopf zusammengebrochen ist, moralisch und physisch», sagt sie. «Reign war mein Baby. Wie kann es sein, dass das alles um 6.08 Uhr abends am 4. August aufgehört hat?»

Nach der Explosion haben Kunden und Freunde mit einer Online-Geldsammelaktion für den Salon begonnen. Boumelhem hofft auch, dass sie irgendwann vielleicht vom Staat Schadenersatz bekommt. Aber es ist angesichts der politischen Instabilität, Finanzkrise und kaputten Wirtschaft ein komplizierter Prozess, und sie weiss nicht, ob sie nach all ihrer harten Arbeit die Kraft zum Wiederaufbauen hat.

«Ehrlich, ich weiss nicht, wo ich jetzt stehe», sagt die Libanesin. «Ich bin verwirrt. Ich habe Angst. Ich fühle mich verloren. Ich weiss nicht, was ich als nächstes tun soll.»

Zurück zur Startseite