Drei Monate nach Moria-Brand Die Schweiz will 20 Kinder aufnehmen – aber wo sind die eigentlich?

Von Andreas Fischer

8.12.2020

Nachdem ein Brand das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos vernichtet hatte, waren die Menschen tagelang auf sich selbst gestellt.
Nachdem ein Brand das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos vernichtet hatte, waren die Menschen tagelang auf sich selbst gestellt.
Keystone / Archiv

Als das Flüchtlingslager Moria brannte, versprach der Bund, zwanzig minderjährige Geflüchtete aufzunehmen. Sie sind immer noch nicht in der Schweiz. Die Lage auf Lesbos verschlechtert sich derweil weiter, wie ein Augenzeuge berichtet.

Mehr als 12'000 Menschen lebten im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Tatsächlich Platz bot es weniger als 3000 Geflüchteten. Dann brannte das Flüchtlingslager im September komplett nieder. Tausende Menschen verloren ihr Obdach.

Der Bundesrat sagte damals auf Ersuchen der deutschen Bundesregierung zu, 20 unbegleitete minderjährige Asylsuchende ohne familiäre Verbindungen in die Schweiz aufzunehmen. Das hatte schweizweit Empörung ausgelöst: «Die Schweiz kann und soll mehr tun», forderten Gemeinden, die Kirchen und zahlreichen Menschen bei Protestveranstaltungen. Schon vor dem Brand in Moria hatten die acht grössten Schweizer Städte ihre Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter erklärt (PDF-Download) und waren weit über die schlussendlich erfolgten Zusagen des Bundes hinausgegangen.



Gestern lief dann eine Meldung der Nachrichtenagentur Keystone-SDA über den Ticker: «Die Schweiz nimmt bis Ende Jahr weitere rund drei Dutzend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland auf.» Viele Medien, auch «blue News», veröffentlichten den Agenturtext – ohne sich anzusehen, wie die Zahlen zustande kommen und ohne die Hintergründe dieser Meldung zu beleuchten.

«Reisevorbereitungen» im Gange

In einer schriftlichen Antwort (auf Französisch) zur Fragestunde des Nationalrates, auf der die Agenturmeldung basiert, ist lediglich von 14 weiteren Jugendlichen mit familiären Verbindungen in die Schweiz die Rede, die zusätzlich zu den 20 unbegleiteten Minderjährigen aus Moria aufgenommen werden sollen. Nationalrätin Isabelle Pasquier (Grüne/GE) hatte am 2. Dezember im Rahmen einer Fragestunde Auskunft erbeten, ob das Vorhaben umgesetzt worden sei.



Statt mit einem «Nein» antwortet das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) verklausuliert: Die Reisevorbereitungen seien im Gange. Die Kinder und Jugendlichen sollen demnach vor Ende des Jahres in der Schweiz ankommen. Das wurde vom Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage von «blue News» bestätigt.

Drei Monate sind seit der Feuerkatastrophe vergangen: Die 20 Kinder und Jugendlichen, die der Bund aufnehmen will, sind noch immer nicht in der Schweiz angekommen. Warum dauert das so lange? Wie geht es den Minderjährigen? Wo sind sie überhaupt?

Gut Ding will Weile haben

SEM-Mediensprecher Lukas Rieder antwortet schriftlich auf diese Fragen. «Auf die Dauer dieses Zuteilungsprozesses hatte die Schweiz keinen Einfluss. Weiter ist die Organisation und Abwicklung des Transfers dieser Kinder und Jugendlichen aus Griechenland aufwendig und erfordert Zeit.» Die Zuteilung sei unter der Federführung der EU-Ratspräsidentschaft und der Europäischen Kommission erfolgt, «was einige Wochen Zeit in Anspruch nahm. Insbesondere auch, weil der Transfer in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Gesundheitsprotokoll stehen muss».

Rieder weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass sich das EJPD Anfang des Jahres «aufgrund der besonders prekären Situation unbegleiteter Minderjähriger in Griechenland» verpflichtet habe, «die Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger mit familiären Bindungen in der Schweiz im Rahmen der Dublin-III-Verordnung aktiv zu fördern». Bis heute habe die Schweiz in diesem Zusammenhang 54 Kinder und Jugendliche aufgenommen. «Es ist geplant, dass eine weitere Gruppe von rund 14 Minderjährigen mit familiären Bindungen zur Schweiz mit den erwähnten 20 Kindern und Jugendlichen in die Schweiz einreisen wird.»

Katastrophale Zustände im neuen Camp

Diese 20 unbegleiteten Minderjährigen halten sich laut SEM derzeit «in den Schutzstrukturen der griechischen Behörden» auf und werden dort von genannten Behörden sowie der «IOM (International Organisation for Migration) betreut».



Das ist gut zu wissen, denn nach dem Brand waren die Geflüchteten aus dem Lager Moria auf Lesbos tagelang ohne Unterkunft, hausten ohne jede Unterstützung auf der Strasse und wurden von der örtlichen Polizei daran gehindert, in Städte oder Dörfer zu gehen. Mittlerweile sind sie in einem temporären Camp in Kara Tepe untergebracht, wie Fabian Bracher in einem Telefongespräch mit «blue News» berichtet.

Der Berner ist seit mehreren Monaten auf Lesbos, arbeitet dort unter anderem für die Hilfsorganisation «One Happy Family Community Center». Die Zustände, über die er sich während mehrerer Wochen regelmässig vor Ort ein Bild machte, seien katastrophal.

Frauen waschen sich um fünf Uhr morgens im Meer

«Das neue Camp sieht auf den ersten Blick zwar organisierter aus mit den grossen Zelten vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Das Problem ist aber: Es wurde direkt am Meer gebaut, und die Menschen sind in ihren Zelten Wind und Wetter ausgesetzt», sagt Bracher. Dazu zählen nicht nur Hochwasser und Sturm, im vergangenen Monat habe es auch ein Erdbeben mit Tsunami-Warnung gegeben.



Auch die technische und sanitäre Infrastruktur seien katastrophal. So sei das Camp nicht an die Stromversorgung angeschlossen: «Der Strom wird von einigen Generatoren erzeugt, was aber nicht ausreicht, um sich Mahlzeiten zu erwärmen, einen Wasserkocher anzuschliessen oder zu heizen.» Eine zentrale Trinkwasserversorgung gibt es nicht: «Das Wasser wird in Trucks angekarrt und über grosse Wassersäcke, die das Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe installiert hat, verteilt.»

60 Prozent der Toiletten seien entweder total verdreckt oder nicht benutzbar. Auch duschen ist für die Geflüchteten unmöglich. «Es gibt nur sogenannte Bucket-Showers, wo sich die Menschen mit einem Eimer voll kaltem Wasser waschen können. Viele waschen sich aber auch im Meer. Einige Frauen gehen in Gruppen um fünf Uhr morgens an den Strand, um wenigstens etwas Privatsphäre zu haben und sich gegenseitig schützen zu können», berichtet Bracher, der davon ausgeht, dass die Lage im anstehenden Winter noch einmal «viel, viel prekärer» wird.

Mögliche Gefahren durch Alt-Munition

Dazu kommt, dass «Human Rights Watch» heute vor einer möglichen Bleivergiftung und zurückgelassener Munition warnte. Das Übergangslager in Kara Tepe wurde auf einem alten Militärübungsplatz errichtet, gemäss der Menschenrechtsorganisation wurde der Boden nicht auf Giftstoffe getestet.

Immerhin seien die meisten der unbegleiteten Minderjährigen nach dem Brand in Moria aufs Festland gebracht und dort in anderen Strukturen untergebracht, bestätigt Bracher die Aussage des SEM. «Einige sind aber auch noch hier, vor allem diejenigen, deren Minderjährigkeit noch nicht behördlich bestätigt wurde.» Auf Lesbos gäbe es zudem noch eine sogenannte «safe area», in der Jugendliche ausserhalb der Campstrukturen untergebracht werden. Im Camp selber seien etwa ein Drittel der Bewohner minderjährig. Allerdings seien sie nicht unbegleitet.

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