Afrika«Du kannst jederzeit sterben» – Migrationskrise auf den Kanaren
SDA
12.11.2020 - 11:46
Das verwüstete Moria, Migranten in Seenot vor Italien oder am Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland – Bilder wie diese prägen die Berichterstattung über das Schicksal von Migranten.
Aber rund 4000 Kilometer entfernt vom abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos braut sich im Atlantik eine neue Krise zusammen. Seit Jahresbeginn erreichten knapp 14 000 Migranten die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der Westküste Afrikas. Das waren nach Angaben des spanischen Innenministeriums fast siebenmal so viele wie im Vorjahreszeitraum.
Die Inselgruppe dürfe nicht zu einem Lampedusa Spaniens werden, warnte der Vizeregierungschef der Kanaren, Roman Rodríguez, unlängst. Zwar sind die Kanaren mit 2,15 Millionen Einwohnern viel grösser als Lampedusa, wo nur 4500 Menschen leben. Aber die Zahl ankommender Migranten ist ähnlich. Allein von Samstag bis Montagmorgen kamen mehr als 2200 Menschen. Auf die süditalienische Insel Lampedusa kamen seit Januar 16 000 Menschen in Booten.
Die Überfahrt von Afrika zu dem Kanaren gilt als eine der gefährlichsten überhaupt. Die Menschen starten in Marokko, Senegal, Gambia, Mauretanien, Guinea-Bissau oder sogar im rund 2400 Kilometer entfernten Guinea. Die meisten der offenen Holzboote werden nur von einem Aussenborder angetrieben und können der stürmischen See des Atlantiks kaum etwas entgegensetzen. Nach Informationen der UN-Migrationsorganisation (IOM) starben in diesem Jahr bereits mindestens 414 Menschen – doppelt so viele wie im Vorjahr.
«Du kannst jederzeit sterben», sagt etwa Papa Diop Sarr, ein Fischer in Senegal, der nach einem gescheiterten Versuch erneut die Reise antreten möchte. Die ganze Familie zurücklassen zu müssen, sei ein Ansporn, für ein besseres Leben in Europa zu kämpfen. «Aber wir gehen ohne zu wissen, was für Chancen oder Schwierigkeiten wir vorfinden werden.»
Das wahre Ausmass der Tragödien auf See dürfte schlimmer sein als bekannt. «Durch die sehr niedrige Erfolgsquote erreichen nur wenige Menschen die Kanarischen Inseln», schreibt IOM. Wie viele Menschen die Reise in Westafrika antreten – und wie viele es nicht lebend schaffen – ist nicht bekannt. Spanische Medien berichteten etwa von einem 17-Jährigen aus Marokko. Er habe erzählt, dass von den 26 Menschen an Bord seines Bootes 16 während der Irrfahrt über den Atlantik verdurstet seien. Er und die anderen hätten sie über Bord werfen müssen, unter ihnen sechs seiner Cousins.
«Die eine Sorge ist das Risiko des Sterbens», sagt Nassima Clerin, eine Expertin für den Schutz von Migranten bei der IOM in Senegal. «Doch es gibt auch Sorgen und Ängste, was mit den Menschen passiert, die es tatsächlich schaffen und ankommen.» Auf den Kanaren ist die Lage in der Hafenstadt Arguineguín im Südwesten von Gran Canaria am schwierigsten. Auf der Hafenmole drängten sich am vergangenen Wochenende mehr als 2000 Neuankömmlinge, lagerten unter freiem Himmel und schliefen auf Beton, die hygienischen Verhältnisse waren schlimm.
Eigentlich sollen die Migranten dort binnen 72 Stunden registriert und auf das Coronavirus getestet werden. Aber die Behörden sind überfordert und der Unmut in der Bevölkerung wächst. Schon gibt es Demos gegen eine angebliche «Invasion», bei der beklagt wird, der Staat tue zuviel für die Migranten und zuwenig für die von der Corona-Pandemie betroffenen Einheimischen. Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska kündigte nun bei einem Besuch von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson an, dass das Aufnahmelager im Hafen aufgelöst und in eine Kaserne verlegt werde.
Aber was treibt immer mehr Menschen dazu, ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Experten glauben, dass es unter anderem mit der Verschiebung der Migrationsrouten zu tun hat – auch wegen coronabedingter Grenzschliessungen. Alle Sahel-Staaten hätten während der Pandemie dicht gemacht, sagt Matt Herbert von der Denkfabrik Institute for Security Studies. Besonders lang und effektiv seien Algeriens Schliessungen gewesen. So sei die Route von Niger oder Mali nach Algerien kaum nutzbar gewesen. In Marokko seien die Behörden zudem in Kooperation mit der EU stärker gegen die Migration vorgegangen, erklärt Bram Frouws vom Mixed Migration Centre.
Die Pandemie hat zwar vielen Migranten die Reise erschwert, doch sie hat auch die Not der Menschen verstärkt – und den Wunsch auszuwandern. Denn die Corona-Krise hat vielen die Lebensgrundlage genommen. Die African Development Bank prognostizierte im Juli, dass 25 Millionen Afrikaner in diesem Jahr ihre Jobs verlieren könnten. In Senegal etwa, das stark vom Tourismus abhängig ist, wird das Wirtschaftswachstum der Weltbank zufolge von 5,3 Prozent 2019 auf 1,3 Prozent in diesem Jahr sinken.
Der Senegalese Gala Sow ist einer der vielen, der darunter leidet. Der junge Mann betrieb in der Hafenstadt Saint Louis im Norden des westafrikanischen Landes ein kleines Geschäft, wie er der Zeitung «El País» erzählte. Dort verkaufte er Armbänder, Halsketten, Schuhe und Kleidung und gab nebenher Kurse für die Yembé-Trommel. Während der Touristensaison konnte er umgerechnet bis zu 4500 Euro verdienen. Aber von einem Tag auf den anderen war das alles vorbei.
Wegen der Pandemie wurde eine Ausgangssperre verhängt und die Touristen blieben weg. Sow konnte seine Mutter und seine Geschwister nicht mehr unterstützen, verkaufte ein Stück Land, schnappte sich seinen jüngeren Bruder und stieg mit 66 anderen Menschen in ein Fischerboot Richtung Kanaren. «Alle, die im Tourismus arbeiteten, in Hotels, Touristenführer und Händler, verloren ihre Lebensgrundlage», erzählte der Mann der Zeitung kurz nach seiner Ankunft auf Teneriffa. Wenn er Glück hat, darf er bleiben, könnte sogar aufs spanische Festland gelangen. Wenn nicht, könnte er in einem der Abschiebeflüge nach Mauretanien landen, die nach einer Unterbrechung seit März am Dienstag wieder aufgenommen wurden.
Die meisten Migranten, die auf den Kanaren ankommen, hoffen laut IOM-Expertin Clerin, auf das Festland Spaniens zu kommen oder sogar weiter in andere Länder Europas zu reisen. Doch wegen der Corona-Lage sei es derzeit schwierig, zum Festland zu gelangen, viele Migranten blieben auf den Kanaren. «Sie sind quasi dort gestrandet.»
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