Experte erklärt Machtwechsel in der Ukraine«Dürfte in der Armee nicht besonders gut ankommen»
Von Sven Ziegler
9.2.2024
Am Donnerstagabend gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Austausch der Armeespitze bekannt. Was dahintersteckt – und wer der neue starke Mann in der ukrainischen Armee ist.
Von Sven Ziegler
09.02.2024, 15:08
09.02.2024, 15:15
Sven Ziegler
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Generaloberst Olexander Syrskyj ist der neue Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee.
Der bisherige General Walerij Saluschnyj ist von seinem Posten entbunden worden.
ETH-Experte Marcel Berni erklärt die Hintergründe des Machtwechsels.
Die Nachricht kam mit Ankündigung – und schlug trotzdem ein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tauscht den Oberbefehlshaber seiner Armee aus. General Walerij Saluschnyj ist von seinem Posten entbunden worden. Zum Nachfolger sei Generaloberst Olexander Syrskyj ernannt worden, hiess es am Donnerstagabend.
Bereits seit Wochen wurde über die Absetzung Saluschnyjs spekuliert. Der 50-Jährige gilt in der ukrainischen Bevölkerung als äusserst beliebt. Experten vermuteten bereits seit Längerem einen Popularitätsmachtkampf hinter den Kulissen. Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse sagte vor wenigen Tagen gegenüber der «Augsburger Allgemeinen», Saluschnyi sei «momentan bei Weitem die beliebteste Person in einer Führungsposition». Es sei durchaus denkbar, dass der nun entlassene Oberbefehlshaber zu Selenskyjs politischem Rivalen werde.
Militärexperte Marcel Berni von der ETH Zürich verfolgt die Geschehnisse in der Ukraine genau. Er sagt gegenüber blue News, dass der Beliebtheitsmachtkampf durchaus eine Rolle gespielt haben könnte. «Ich denke aber nicht, dass das der Hauptpunkt ist. Ein beliebter General in den eigenen Reihen ist eigentlich ein grosser Vorteil. Saluschnyi ist nun sicherlich politisch eine grössere Gefahr, weil er nicht mehr an Selenskyj gebunden ist.»
Unterschiedliche Ansichten entscheidend
Ausschlaggend dürften laut Berni vielmehr die verschiedenen Ansichten zum Kriegsverlauf gewesen sein. Als Saluschnyj in einem Interview mit dem «Economist» von einem «Stillstand an der Front» sprach, kritisierte Selenskyj kurze Zeit später seinen Obergeneral: «Wir haben kein Recht, die Hände sinken zu lassen.»
Zur Person
zVg
Marcel Berni studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Ökologie an der Universität Bern. Seit 2014 forscht und lehrt er an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich.
«Selenskyj fasste die Aussagen seines nun ehemaligen Oberbefehlshaber nicht gut auf», analysiert der Militärexperte. «Für ihn ist der Krieg kein Stellungskrieg, sondern ein tobender Kampf. Saluschnyjs entgegengesetzte Analyse war eine Torpedierung der eigenen Propaganda. Das kam in Kiew gar nicht gut an.»
Der neue Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj kommandierte bislang die Bodentruppen der ukrainischen Armee. Er führte die Truppen in den vergangenen Kriegsjahren sowohl bei der erfolgreichen Verteidigung von Kiew unmittelbar nach dem russischen Einmarsch als auch bei der Schlacht um Charkiw an – zwei der grössten Erfolge der ukrainischen Armee im russischen Angriffskrieg.
General alter Schule nun an der Macht
Trotzdem stellt Syrskyj einen krassen Paradigmenwechsel dar, sagt Berni. «Er ist ein General der alten Schule, ist sehr sowjetisch geprägt. Saluschnyj hingegen galt als westlich geprägt. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass der Machtwechsel innerhalb der ukrainischen Armee besonders positiv aufgenommen wird.»
Ausschlaggebend dürfte, so Berni, Selenskyjs Versuch sein, die Armeespitze wieder auf seine Kriegsziele einzuschwören. «Der ukrainische Präsident hat die erklärte Absicht, keinen Meter ukrainisches Land an Russland zu verlieren – koste es, was es wolle. Syrskyj dürfte diese Ziele ebenfalls verfolgen. Der alte Befehlshaber Saluschnyj hingegen stand stets für eine progressive Kriegstaktik, war beispielsweise offen dafür, Territorium vorübergehend Russland zu überlassen, um dann einen Gegenangriff zu starten.»
Der neue Oberbefehlshaber dürfte damit auch gewisse Wechsel in der Kriegstaktik bewirken, sagt Berni: «Ich denke, wir werden die ukrainische Armee in Zukunft als weniger flexibel erleben. Es geht darum, das eigene Territorium um jeden Preis zu verteidigen. Das führt auch zu einer höheren Abnutzung und Verheizung der eigenen Truppen.»
Wolodymyr Selenskyjs Entscheidung sei daher sicherlich auch unter Zugzwang passiert. «2023 war ein enttäuschendes Jahr für die Ukraine», so Berni. «Die angekündigte Gegenoffensive ist gescheitert, der westliche Support lässt langsam nach. Der Austausch der Armeespitze ist meiner Ansicht nach der verzweifelte Versuch, die Armee und die Bevölkerung noch einmal aufzurütteln. Ob der Versuch Erfolg hat, wird sich weisen müssen.»